»Druck ist nicht das richtige Mittel«

Die Thüringer Gesundheitsministerin Heike Werner über die Strategie des Freistaats zur Eindämmung der Pandemie

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 10 Min.

In Thüringen gilt nun das 2G-Optionsmodell für die Veranstaltungsbrache, nicht aber für die Gastronomie - obwohl in anderen Bundesländern Restaurants und Cafés seit Wochen damit arbeiten können. Ein weiterer Beleg dafür, dass Thüringen bei vielen Corona-Regelungen hinter anderen Bundesländern hinterherhinkt?

Ich würde sagen, das Gegenteil ist der Fall. Zum einen sind es nur einige Bundesländer, die ein 2G-Modell für die Gastronomie eingeführt haben. Für uns war immer der Maßstab, abzuwägen, wie hoch die Krankheitslast für das Gesundheitssystem ist und ob das die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten rechtfertigt. Eine solche ist ja der Ausschluss von Menschen, die »nur« einen negativen Coronatest vorweisen können und keine Impfung. Wir haben es uns nie leichtgemacht, gerade nicht als rot-rot-grüne Landesregierung, für die Grund- und Freiheitsrechte ganz besonders wichtig sind.

Heike Werner (Linke)
ist seit Dezember 2014 Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie in Thüringen. Sebastian Haak sprach mit ihr über die Strategien der Landesregierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, über ihre Haltung zu einer Impfpflicht – und über einen möglichen weiteren Corona-Herbst im Jahr 2022.

Die Sieben-Tage-Inzidenz im Freistaat ist nach einem Tief im Sommer und frühen Herbst aktuell mit 219,7 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner (Stand Sonntag) binnen einer Woche wieder die höchsten bundesweit. Auch der Anteil der Covid-19-Patienten in den belegbaren Intensivbetten kletterte am Freitag auf 6,7 Prozent und lag damit den dritten Tag in Folge über dem kritischen Schwellenwert von 6,0 Prozent.

Soll das heißen, dass Hamburg, das mit einem 2G-Modell vorangegangen ist, oder Berlin - auch rot-rot-grün regiert - oder Hessen oder Baden-Württemberg, die mit 2G-Modellen gefolgt sind, diese Abwägung nicht sorgsam vornehmen?

Diese Bundesländer treffen die Abwägung anders. Und Berlin musste bei seinem 2G-Modell am Ende zurückrudern, weil der Ausschluss bestimmter Personengruppen dort für nicht rechtens befunden wurde. Aber lassen Sie mich noch mein zweites Argument anführen, warum wir unser 2G-Optionsmodell erst mal nur für die Veranstaltungsbranche eingeführt haben: Diese Branche hat sich an uns gewandt, weil man dort Planungssicherheit braucht, auch über die Warnstufen hinweg. Dort werden jetzt schon Veranstaltungen für November, Dezember oder Januar vorbereitet. In der Gastronomie waren die Diskussionen über ein 2G-Optionsmodell viel länger und viel kontroverser. Dort war man sich lange uneins darüber, ob die Gastronomen überhaupt die Verantwortung übernehmen wollen zu sagen: Wir machen jetzt 2G oder nicht.

Dazu kommt für mich immer die Frage, ob so ein Modell in einer bestimmten Branche praktisch umsetzbar ist: Was machen Sie denn, wenn Sie mit ihrer Familie am Sonntag in die Gaststätte wollen und dort nach 2G eingelassen wird? Das hieße, dass Sie im Laufe des späteren Samstags für ihre Kinder im Alter von unter zwölf Jahren - für die es keinen zugelassenen Impfstoff gibt - einen Schnelltest brauchen. Nun ist es gar nicht so einfach, so einen Test an einem Samstagabend noch irgendwo zu bekommen. Ganz abgesehen davon, dass es ein großer Aufwand für die Familien wäre. Aber genau das wollen wir: Familien entlasten, gerade in Pandemie.

Bei Letzterem stimmen Ihnen sicher viele Menschen zu. Und doch verweist das auf ein weiteres Beispiel, bei dem Thüringen in der Pandemie hinten dran war: Coronatests in Schulen. Während in anderen Ländern längst klar war, dass nach den Sommerferien dort verpflichtend getestet werden würde, konnte sich der Thüringer Bildungsminister Helmut Holter erst durch öffentlichen und parlamentarischen Druck dazu durchringen.

Noch mal: Wir wägen als Landesregierung immer die verschiedenen Argumente und Perspektiven gegeneinander ab. Bei der Testpflicht in den Schulen nach den Ferien haben wir ausdrücklich die Expertise unseres wissenschaftlichen Beirats eingeholt, der interdisziplinär besetzt ist - mit Virologen, Ärzten, Erziehungswissenschaftlern, Fachleuten aus dem Bereich der öffentlichen Gesundheit. Dessen Einschätzung war, dass wir dafür sorgen müssen, dass wir Kinder und Jugendliche in der Pandemie so wenig wie möglich belasten und dass es deshalb kein anlassloses Testen in Kindergärten und Schulen mehr geben soll. Dieser Empfehlung ist das Bildungsministerium gefolgt. Deshalb hat unsere Herangehensweise an die Pandemie nichts mit Zuspätkommen zu tun, sondern damit, verschiedene Perspektiven abzuwägen und dann einen Weg zu finden.

Trotzdem scheint es, dass die Abwägungsprozesse in der Pandemie in Thüringen anders laufen als in anderen Ländern. Hat das damit zu tun, dass sie auf die - im Bundesdurchschnitt besonders vielen - Thüringer Rücksicht nehmen, die sich bislang nicht haben impfen lassen und das auch nicht tun wollen?

Natürlich bedenken wir auch, dass es Menschen gibt, die sich nicht impfen lassen wollen. Aber wenn Sie vom Zuspätkommen oder Hinterherhinken sprechen, dann machen Sie - aus meiner Perspektive - unsere Corona-Politik viel zu sehr an kleinen Einzelbeispielen fest. Daran, ob wir hier ein 2-G-Optionsmodell haben oder nicht, entscheidet sich doch nicht, wie wir durch die Pandemie kommen. Wir waren nie diejenigen, die die allerstrengsten Corona-Maßnahmen hatten. Aber wir waren nie diejenigen, die alles besonders lax gesehen haben. Wir haben vielmehr immer wieder darauf gedrungen, dass es bundeseinheitliche Regelungen gibt …

… auf die wir bis heute warten.

Na ja, in manchen Bereichen gibt es so etwas schon. Denken Sie daran, dass wir zu den ersten Bundesländern gehören, die gefordert haben, nicht mehr allein auf die Inzidenzen zu schauen, um Corona-Beschränkungen zu rechtfertigen, sondern zum Beispiel auch auf die Auslastung der Krankenhäuser, der Intensivstationen. Heute gilt dieser Ansatz bundesweit.

Noch mal zurück zu der Frage: Wägt die Landesregierung Dinge anders ab, weil der Anteil der Impfverweigerer in Thüringen größer ist als in vielen anderen Regionen Deutschlands?

Nein, das würde ich für mich ausschließen. Wir wägen immer danach ab: Wie ist die Krankheitslast? Wie ist die Belastung des Gesundheitssystems? Was bedeutet die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten? Daraus leitet sich unsere Corona-Politik ab. Und eins will ich ganz deutlich sagen: Es ist aus unserer Sicht nicht hilfreich, den Druck auf Menschen zu erhöhen, die sich bislang nicht haben impfen lassen. Das haben wir in den vergangenen Monaten gelernt. Wenn man den Druck erhöht, führt das nicht automatisch dazu, dass die Leute tun, was man von ihnen erwartet. Im Gegenteil. Vielleicht ist das auch etwas spezifisch Ostdeutsches, etwas, das mit der Wendeerfahrung zu tun hat.

Sie spielen damit auf die Debatte um die Corona-Impfpflicht an?

Nicht nur - aber auch.

Wenn das so ist, wie Sie es beschreiben, warum funktioniert dann ausgerechnet in den USA die Impflicht an so vielen Orten? Immerhin gelten Amerikaner alles andere als staatsgläubig. Gerade dort aber haben der Bund und viele Unternehmen eine Corona-Impfpflicht eingeführt - und so die Impfquote drastisch erhöht ...

Das mag sein. Aber kulturell gibt es doch Unterschiede zwischen den USA und einem ostdeutschen Bundesland wie Thüringen, wo die Menschen besondere Erfahrungen haben. Deshalb bleibe ich dabei: Druck ist nicht das richtige Mittel, um möglichst viele vom Impfen zu überzeugen. Das haben wir schon bei der Diskussion um die Masernimpfpflicht gesehen ...

… die eingeführt worden ist.

Aber nur für Kindergärten und Schulen. Es gibt keine allgemeine Masernimpfpflicht. Und das Argument dafür war, dass man so die Kinder schützen will, die sich nicht gegen Masern impfen lassen können.

Das gleiche Argument könnte man im Grunde auch für Corona bringen. Mit einer Impfpflicht aller, denen das medizinisch zuzumuten ist, würde man diejenigen schützen, die sich nicht gegen Covid-19 immunisieren lassen können - Menschen mit Vorerkrankungen etwa.

Es gibt da aber einen wichtigen Unterschied: Bei Corona gibt es bei Kindern und Jugendlichen in der Regel einen moderaten Krankheitsverlauf. Die Krankheitslast ist nicht so hoch, dass man damit eine Impfpflicht rechtfertigen könnte. Vor allem nicht, weil wir auch andere Maßnahmen haben, um Infektionen zu verhindern: Abstandhalten, Maske tragen, Quarantäne für den Fall, dass sich jemand infiziert hat.

Spricht am Ende gegen die Impfpflicht vor allem, dass die Politik zu Beginn der Pandemie versprochen hat, dass es keine geben wird? War dieses Versprechen ein Fehler?

Nein, das war kein Fehler. Denn diese Aussage hat deutlich gemacht, dass uns Grund- und Freiheitsrechte der Menschen wichtig sind. Mit einer Impfpflicht greifen wir erheblich in die Unversehrtheit des Körpers ein. Jeder Mensch muss an dieser Stelle selbstbestimmt entscheiden, auch wenn ich vehement für das Impfen gegen Corona werbe. Denn Menschen, die sich haben impfen lassen oder die genesen sind, bekommen ja andererseits Grund- und Freiheitsrechte wieder, die Ungeimpfte nicht wieder bekommen können. Dort, wo zum Beispiel die Warnstufe eins gilt, ist der Zutritt zu bestimmten Bereichen nur nach den 3-G-Regeln gestattet. Wer nicht geimpft oder genesen ist, muss sich dann eben testen lassen. Und diese Tests müssen mittlerweile bezahlt werden. Dazu kommt, dass Geimpfte und Genesene bei möglichen Kontaktbeschränkungen nicht mitzählen. Wer also nicht geimpft ist, muss dafür auch die Konsequenzen tragen. Das gehört zur Freiwilligkeit der Impfung dazu.

Wenn Sie zurückschauen auf die seit rund 18 Monaten anhaltende Pandemie: Gibt es Dinge, die Sie - eingedenk des heutigen Wissens über das Virus - mit Blick auf die Corona-Regeln anders machen würden?

Ja, es sind vor allem drei Dinge, die mich da bewegen. Das eine ist: Wir haben Menschen in den Pflegeeinrichtungen zu viel zugemutet mit den Kontakt- und Betretungsverboten. Wir hatten zwar in unsere Verordnungen relativ schnell wieder die Regelung aufgenommen, dass schwerkranke Seniorinnen und Senioren auch wieder besucht werden durften. Das wurde aber vor Ort auch nicht immer so umgesetzt, wie wir das wollten.

Rückblickend würde ich sagen, das kann man so nicht machen. Da ist viel Leid entstanden - nicht nur bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der Heime, sondern auch bei den Pflegenden, die schlimme Sachen aushalten mussten. Zweitens: Der Lockdown hat vor allem diejenigen negativ beeinflusst, die in schwierigen sozialen Verhältnissen leben. Kinder und Jugendliche zum Beispiel, die kein eigenes Zimmer haben, die nicht in einen Garten können, die hatten es besonders schwer. Für diese jungen Menschen hätten wir Notangebote schaffen müssen.

Und drittens?

Drittens, der Lockdown, der Ende 2020 kam und bis Anfang 2021 gedauert hat, der hätte früher kommen müssen. Wenn er eher gekommen wäre, wäre wahrscheinlich auch die Last in den Krankenhäusern während der dritten Welle geringer gewesen und der Lockdown hätte vielleicht auch nicht so lange dauern müssen.

Nun stehen wir - nicht zuletzt wegen des inzwischen schleppenden Impffortschritts - vor einem zweiten Corona-Herbst und -Winter. Mit welcher Strategie gehen Sie in die nächsten Monate?

Vor allem müssen wir immer wieder für das Impfen werben. Das ist eine Anstrengung, die wir als Staat einfach auf uns nehmen müssen, denn aus der Erfurter Cosmo-Studie wissen wir, dass der harte Kern der Impfverweigerer nur bei etwa acht Prozent der Bevölkerung liegt. Derzeit sind aber noch etwa 40 Prozent der Menschen in Thüringen nicht vollständig geimpft. Es gibt da also noch viele, die wir mit unseren niedrigschwelligen Impfangeboten erreichen können. Deshalb werden wir unsere Impfstellen erhalten und auch weiter mit mobilen Impfteams unterwegs sein, um so viele Menschen wie möglich davon zu überzeugen, sich immunisieren zu lassen und ihnen die entsprechenden Gelegenheiten dazu zu bieten. Jede einzelne Impfung zählt.

Sie wollen also tatsächlich auch weiterhin nachsichtig mit denen bleiben, die sich bewusst nicht impfen lassen, obwohl sie das könnten? Legt man damit nicht die Basis dafür, dass es 2022 einen weiteren Corona-Herbst gibt?

Wir - also die deutschen Gesundheitsministerinnen und Gesundheitsminister - gehen im Moment nicht davon aus, dass es noch einen dritten Corona-Herbst oder -Winter geben wird. Auch, wenn es bei dieser Prognose natürlich zahlreiche Unwägbarkeiten gibt, zum Beispiel die Frage, ob nicht noch irgendwelche neuen Virusvarianten auftauchen. Wir gehen aber - auch nach Beratung durch das Robert-Koch-Institut - davon aus, dass im Herbst und Winter 2022/23 eine Grundimmunisierung der Bevölkerung in Deutschland da sein wird, wenngleich das nicht bedeutet, dass nicht hier und da noch einzelne, kleinere Corona-Ausbrüche aufflackern können.

Aber lassen Sie mich noch mal eine Sache betonen: Es geht nicht um Nachsicht gegenüber bestimmten Personengruppen. Es ist vielmehr so, dass wir darauf setzen, dass sich Menschen gesamtgesellschaftlich verantwortungsvoll verhalten, dass sie sich also impfen lassen, wenn bei ihnen keine medizinischen Gründe dagegen stehen. Jeder und jede Einzelne trägt Verantwortung dafür, was bei uns passiert.

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