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Ein Talent im Magnetfeld der Macht
Die NDR-Dokuserie »Kevin Kühnert und die SPD« ist ein faszinierender Blick hinter die Kulissen des politischen Betriebs
Dass Kevin Kühnert sich ausgerechnet von Markus Feldenkirchens Buch über Martin Schulz dazu motivieren ließ, einer Langzeitdoku über seine eigene Person zuzustimmen, hätte ein zweifelhaftes Omen bedeuten können. Bekanntlich ging die Geschichte des als großer Hoffnungsträger gestarteten Kanzlerkandidaten der SPD von 2017 am Ende grandios schief. Doch von Hoffnung kann schon kaum mehr die Rede sein, als die sechsteilige NDR-Dokuserie »Kevin Kühnert und die SPD« im Oktober 2018 einsetzt, am Tag der hessischen Landtagswahl, bei der die SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis einfährt. Dass knapp drei Jahre später die Reise der SPD im Kanzleramt enden würde, hätte selbst ein mit allen Wassern gewaschener Stratege wie Kühnert kaum ahnen können. Hoffen aber vielleicht. Doch vor allem unermüdlich daran arbeiten.
Sein Anliegen bei der Doku sei ein »Aufklärerisches« gewesen, verrät Kühnert im Interview mit DWDL.de: »Ich wollte zeigen, wie mein politischer Alltag wirklich abläuft.« Über drei Jahre haben Katharina Schiele und Lucas Stratmann Kevin Kühnert an 80 Drehtagen begleitet, auf große Parteitage und kleine Provinzhappenings, in bunte Fernsehshows und triste Konferenzräume, in Strategiemeetings und Raucherpausen. Dabei wird vor allem beobachtet: Kevin auf der Bühne, vor der Presse, beim Small-Talk, im Zug oder Auto, beim Starren aufs Handy - und fast immer an seiner Seite: Pressesprecher und wichtigster Austauschpartner Benni Köster. Herausgekommen ist ein faszinierender Blick hinter die Kulissen des politischen Betriebs und das eindrückliche Porträt eines großen politischen Talents im Magnetfeld der Macht.
Zu Beginn der Serie ist es allerdings keineswegs ausgemacht, dass bis zur nächsten Bundestagswahl noch drei Jahre vergehen sollten. Seit die SPD sich 2017 erneut in eine große Koalition genötigt sah, wächst in der Partei die Unzufriedenheit. Vor allem Kevin Kühnert, gerade zum Juso-Vorsitzenden gewählt, kritisiert den Eintritt in die Regierung, die Wahlniederlagen seiner Partei geben ihm Recht. Er will die SPD weiter nach links rücken. Kurz vor der Europawahl im Mai 2019 gibt er der »Zeit« ein Interview, in dem er sich zum Sozialismus bekennt und eine Vergesellschaftung großer Unternehmen fordert. Eine hitzige Debatte folgt. In der Parteiführung ist man gar nicht begeistert, aber an der Basis scheint Kühnert vielen aus der Seele zu sprechen. Bei Auftritten in Ortsvereinen wird er gefeiert.
Doch bei der EU-Wahl verliert die SPD noch stärker als in Hessen, Parteichefin Andrea Nahles tritt zurück. Die Doku steuert nun auf ihren dramaturgischen Höhepunkt zu - den Mitgliederentscheid über eine neue SPD-Doppelspitze und das vorausgehende Schaulaufen der Kandidat*innenpaare. So sehr die Medien sich auch auf ein Duell Scholz vs. Kühnert gefreut hatten, der Jungstar hält sich klug zurück und tritt nicht selbst an, unterstützt stattdessen die Außenseiter Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Überraschend schaffen sie es in die Stichwahl gegen Klara Geywitz und Olaf Scholz.
Wer bislang noch Illustrationen für die Rede vom »Königsmacher« Kühnert benötigte, wird nun reichlich bedient. In einem engen Besprechungszimmer schwört Kühnert »seine« Kandidaten auf den Showdown ein, es wirkt ein wenig, als würde ein frühreifer Sohn seine uncoolen Eltern auf den Auftritt in der Kinderdisco vorbereiten. »Ihr habt Lust. Lust, Lust, Lust«, mahnt Kühnert und zieht mit den Händen seine Mundwinkel nach oben, »spielt den Vorteil bitte ihm gegenüber aus.« Esken und NoWaBo gucken ihn ernst an. Doch das Coaching zeigt Wirkung, die beiden unbekannten Parteilinken überzeugen die Mitglieder und setzen sich deutlich gegen das Schwergewicht Scholz und Geywitz durch.
Kühnert selbst wird auf dem folgenden Parteitag mit einer spektakulären Rede zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Zwar darf er nicht in einer Kampfabstimmung gegen »Hubi«, Arbeitsminister Hubertus Heil, antreten (für die er sich siegessicher wähnt), denn zur Gesichtswahrung werden kurzerhand zwei zusätzliche Vorstandsposten geschaffen. Doch sein Wahlergebnis liegt am Ende knapp über dem von Heil. Außerdem gelingt es den Jusos, in aufgeregten Flurgesprächen mit dem Arbeitsminister, ihre Positionen zum neuen Sozialstaatskonzept und damit dem ersehnten Ausstieg aus Hartz IV durchzusetzen. »15 Jahre Trauma, ey«, kommentiert Kühnert, »endlich vorbei der Scheiß!«
Kevin Kühnert ist im Zentrum der Parteimacht angekommen. Doch als die Corona-Pandemie große Teile auch des politischen Betriebs lahmlegt, rückt auf einmal wieder GroKo-Vize Olaf Scholz ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Auf der Suche nach einem Kanzlerkandidaten scheint nun doch kein Weg mehr an ihm vorbeizuführen. Dass auch Kühnert ihn unterstützt, wird ihm schnell als Verrat an seinen Idealen ausgelegt. Der Agenda-Gehilfe Scholz und ein linkes Programm scheinen sich auszuschließen. Und doch sieht Kühnert in dem Parteizentristen gar einen möglichen Wegbereiter für Rot-Rot-Grün. Als Kühnert kurz darauf seine eigene Kandidatur für den Bundestag erklärt, steht die SPD in Umfragen aber gerade mal bei 14 Prozent, die Union bei 36. Ein Kanzler Scholz scheint unvorstellbar. Der Rest ist Geschichte.
Natürlich zieht diese Dokumentation ihre große Kraft auch aus dem lange vollkommen unwahrscheinlichen Sieg der SPD bei der Bundestagswahl. Dieser macht die Veröffentlichung nun aber zu einer kleinen Sensation. Oder wie Kühnert auf der Wahlparty zu »Hubi« bemerkt: »Ich will nicht behaupten, dass das alles unser Genie war, dass wir das alles haben kommen sehen. Aber ein bisschen gut haben wir’s schon gemacht.« Die Doku zeigt dabei große Linien auf: Kurz nach der Hessen-Wahl, bei der auch die Union dramatisch verlor, erklärte Angela Merkel - anders als Nahles - ihren Verzicht auf den Parteivorsitz und auf ein erneutes Antreten fürs Kanzleramt - ein jahrelanges Machtvakuum, in das Scholz schließlich beinahe wie ohne eigenes Zutun hineingesogen wird.
Durch die genaue Beobachtung, herausragende Kameraarbeit und Montage sowie die charismatische Hauptfigur ist »Kevin Kühnert und die SPD« ein Glücksfall für das politische Fernsehen. (Umso schlimmer, dass es bisher erst einen einzigen Sendetermin gab, zur besten Zeit nachts um 0 Uhr.) Ja, der einen oder dem anderen könnte die Doku etwas zu sehr zum Heldenepos stilisiert erscheinen. Aber das macht beim Zusehen auch einfach Spaß.
Für die politische Ausgewogenheit könnte man sich ein solches Porträt nun auch über einen jungen konservativen Politiker wünschen - in der Doku erzählt etwa der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor, dass auch er schon mal angefragt wurde. In diesem Fall aber gerne erst noch mal in der Dramaturgie der Martin-Schulz-Story.
»Kevin Kühnert und die SPD«, NDR 2021, Regie/Kamera: Katharina Schiele, Lucas Stratmann, 6 Folgen à 35 Min., ARD-Mediathek.
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