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Von der Hölle ins Elend
Viele Geflüchtete aus Haiti stranden in Mexiko
Normalerweise ziehen hier Nachtschwärmende voll von Bier, Kokain und Erwartungen durch die Gassen. Die Straße Republica de Cuba, eingebettet ins historische Zentrum von Mexiko-Stadt, beherbergt zahlreiche LGBTQ-Bars und -Clubs. Junge Menschen warten auf den Eintritt - auf Spaß, Abwechslung, Ablenkung. In der winzigen Seitenstraße Callejón Heroes Del 57 gibt es auch Wartende. Doch in den spartanischen Unterkünften warten die Menschen auf etwas ganz anderes. Migrant*innen aus Haiti wohnen hier. Viele erst seit wenigen Monaten. Alle sind froh, hier sein zu können - Polizei und Migrationsbehörden seien in Mexiko-Stadt weniger aggressiv gegenüber Schutzsuchenden. Schaina erzählt: »Hier begrüßen sie dich sogar, lassen dich in Ruhe.« Die 18-Jährige kam vor drei Monaten nach Mexiko - über die Grenzstadt Tapachula im Süden.
Sie redet wahnsinnig schnell, schiebt die Eingangstür zur Wohnung hastig hin und her. Wann sie das letzte Mal in Haiti, ihrem Heimatland war? Sie zögert kurz, muss dann lachen: »Das weiß ich gar nicht mehr, da war ich noch zu klein.« Neun Jahre habe sie zuvor in Chile gelebt. Schainas Geschichte steht exemplarisch für den endlosen Exodus vieler Haitianer*innen aus ihrer Heimat. Denn der Großteil derer, die momentan nach Mexiko oder in die USA wollen, kommt gar nicht direkt aus Haiti. Sie kommen auch nicht wegen des verheerenden Erdbebens im vergangenen August.
Im März 2017 wurde in Mexiko das erste Baby emigrierter haitianischer Eltern geboren. In der Tageszeitung »La Jornada« war am 7. März jenes Jahres auf Seite 25 zu lesen: »Dort, an den Ufern des Abwasserkanals, der aus dem Stadtzentrum kommt und durch den Bruch einer Abwasserleitung vor mehr als 20 Jahren entstanden ist, beginnt der Bau von Little Haiti, der Stadt Gottes, die sich zum haitianischen Viertel von Tijuana entwickelt.«
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Haiti und Mexiko ist eine junge. Sie fußt auf dem desaströsen Erdbeben von 2010, infolge dessen viele Haitianer*innen emigrierten - oder besser gesagt: emigrieren mussten, da es keine Arbeit, kein Zuhause mehr gab. Die Forscherin und Migrationsexpertin Merari Stephanie Montoya Ortiz erklärt: »Vor 2010 gab es zwar Migrationsbewegungen, jedoch keine nennenswerten.«
Wirklich erwähnenswert ist aus ihrer Sicht die Einwanderung der Haitianer*innen im Zeitraum von 2016 bis 2018 nach Mexiko. In diesen Jahren habe sich die Doppelmoral gegenüber der haitianischen Bevölkerung offenbart. Montoya Ortiz analysierte die Migrationsbewegungen genau, war auch Gastdozentin und -Forscherin an der Princeton University in den USA. Für die Olympischen Spiele 2016 in Brasilien habe das Land viele und günstige Arbeitskräfte gebraucht. »Sie holten sich Haitianer, gaben ihnen humanitäre Visa. Als die Spiele vorbei waren und es keine Arbeit mehr für sie gab, gab es auch keine Visa mehr«, so die mexikanische Wissenschaftlerin. Eine geradezu »elegante« Lösung, kommentiert sie zynisch.
Viele Haitianer*innen hätten dann versucht, in die USA zu kommen, ihnen wurden Visa versprochen. Von Brasilien gingen sie nach Mexiko, beantragten dort Asyl für die Vereinigten Staaten - der Großteil wurde abgelehnt. Die Geschichte wiederholt sich: Heute sei es mit dem neuen Präsidenten Joe Biden dasselbe, so die Forscherin. Es sei eine »große Lüge«, dass die Demokraten in den USA Geflüchtete unterstützten würden, sagt sie. mos
Naturkatastrophen, Kriminalität, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und politische Instabilität treiben die Menschen seit vielen Jahren aus dem Land. Entgegen dem Bild, das medial gern vermittelt wird, wollen längst nicht mehr alle ins gelobte Land. Die USA als Ziel der Reise - diesen Traum haben viele bereits aufgegeben. »Sehr schlimm« sei es gewesen, die Bilder seiner Landsleute zu sehen, die an der US-Grenze von berittenen Beamten gejagt wurden, sagt Lomart, 25, aus Port-au-Prince. Er haust ein Stockwerk über Schaina. Zu sechst wohnt er mit Freunden in einem Raum. Geschlafen wird auf dem Boden. Auch er sei zuvor mehr als drei Jahre in Chile gewesen, erzählt er. Bevor er nach Mexiko kam, hatte ihn eine Odyssee durch zehn Länder geführt. »Ich will einfach nur arbeiten und meiner Familie Geld schicken«, sagt der 25-Jährige. Der Grenzübertritt in die USA interessiert ihn nicht. Vor einem Monat beantragte Lomart seine legalen Papiere bei der Comar, der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe.
Die Hausnummer 49 ist Quelle für Hoffnung und Enttäuschung vieler Menschen. In der Straße Versalles im Juárez-Viertel in Mexiko-Stadt stehen knapp 150 Menschen aus Haiti seit sechs Uhr morgens und warten. Und warten. Nur langsam setzt sich der Tross in Bewegung, stets ruckartig, die Mitarbeitenden von Comar lassen immer nur eine Handvoll Personen ins Gebäude ein. Sie harren hier aus, bangen darum, ein Visum für den Aufenthalt in Mexiko zu bekommen - wenigstens für Mexiko. Schlecht stehen die Chancen nicht - aus rechtlicher Sicht dürfen die mexikanischen Behörden Asylbewerber nicht einfach abschieben.
Viele hier erzählen, ihnen reiche es, in Mexiko bleiben und arbeiten zu dürfen. Familientrennungen an der Grenze zu den USA, direkte Pushbacks ohne Asylprüfung sowie Rückführungsflüge: Die faktische Realität demaskiert die warmen Worte, die die US-amerikanische Regierung von Joe Biden und Kamala Harris anfangs an Schutzsuchende richtete. Eine versprochene humanitäre Flüchtlingspolitik entpuppt sich als Luftschloss. Die mexikanische Migrationsforscherin Merari Stephanie Montoya Ortiz sekundiert: Biden habe »völlig unverantwortlich« gehandelt, als er Migrant*innen Hoffnungen machte - nur, um sie später an der Grenze abzuweisen.
Daher entscheiden sich viele Haitianer*innen nun, in Mexiko zu bleiben. Denn ihr Heimatland ist das ärmste und mit Abstand unsicherste der westlichen Hemisphäre. Gewalt der Gangs auf den Straßen, Entführungen mit Lösegeldforderungen, praktische Straflosigkeit: Das alles ist Alltag. Selbst normale Bürger*innen sind in Haiti vogelfrei. Sicherheit ist eine Illusion.
Der Großteil der Menschen vor dem Gebäude der Comar hier in Mexiko-Stadt lebte zuvor in Chile. Jean etwa, der alle Papiere bereits abgegeben hat und mit seinem Kumpel Ricardo in der Mittagssonne herumsteht. Er zeigt seinen chilenischen Ausweis. Als Möbelmonteur habe er in Chile gearbeitet. Kaum einer hier hat ein kritisches Wort für den Andenstaat übrig. Doch warum sind sie dann weggegangen? Warum haben sie ein Land verlassen, das sicherer und wirtschaftlich stabiler ist als Mexiko?
Juan Francisco Galli, Staatssekretär für Inneres der chilenischen Regierung, erklärte im Interview mit BBC Mundo, warum zurzeit so viele Haitianer*innen Chile verlassen: Sie würden nach Möglichkeiten in Nordamerika suchen. »Das hat mit der neuen Politik von Präsident Biden zu tun, der signalisiert hat, dass sie offen für die Aufnahme von Migranten sind, und das hat zu einem bedeutenden Zustrom geführt.«
Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Denn Chile ist im lateinamerikanischen Vergleich ein recht sicheres und ökonomisch stabiles Land. Wer aus einem krisengeplagten Land wie Haiti kommt, würde alles tun, um dort bleiben zu können. Chiles Präsident Sebastián Piñera brachte jedoch ein neues Migrationsgesetz durch, das am 20. April in Kraft trat. Wer vor dem 18. März 2020 - damals schloss die Regierung die Grenzen aufgrund der Pandemie - ins Land kam, darf nur noch maximal 180 Tage in Chile bleiben. Besagtes Ziel des neuen Gesetzes: »Ordenar la casa«, also das Haus aufräumen.
Die Behörden des südamerikanischen Staates verlangen zudem verschiedenste Papiere, die laut Aussagen vieler Geflüchteter unmöglich vorzuweisen seien - etwa ein »Hintergrundzertifikat« aus ihrem Heimatland. Die sechsmonatige Frist erklärt auch, warum gerade jetzt so viele haitianische Flüchtlinge Chile verlassen und in anderen Staaten Schutz suchen. Doch auch Fremdenfeindlichkeit bis hin zu gewalttätigen Übergriffen drängen Haitianer*innen aus dem Andenstaat. Im nördlich gelegenen Iquique fand Ende September eine Demonstration statt. »Keine Migranten mehr« (»No+migrantes«), so der unmissverständliche Titel der Hass-Demonstration. Lokale Behörden berichteten von Übergriffen, bei denen Demonstrierende Orte überfielen, an denen sich Schutzsuchende aufhielten. Sie zerstörten deren Zelte und verbrannten zum Teil auch deren Eigentum.
»Hier in Mexiko habe ich keine Angst. Was mir Angst machte, war der Weg hierher«, erzählt Schaina. Konkret: der Weg durch den Wald. Darién heißt der gefürchtete tropische Dschungel. Mit seinen 500 000 Hektar Fläche umschließt er Teile Panamas und Kolumbiens. Migrant*innen auf dem Weg Richtung Mexiko haben häufig keine Wahl - sie müssen hier durch. Catalina Oquendo, Kolumbien-Korrespondentin der spanischen Zeitung »El País«, schreibt dazu: »Selbst die Behörden können nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Menschen in diesem undurchdringlichen Dschungel gestorben sind.«
Schaina schildert, dass es auf ihrem Weg durch den Dschungel einige nicht geschafft hätten; im bergigen Gelände abgestürzt oder von den Fluten der Flüsse mitgerissen, seien sie gestorben. Dabei wartet auch hier in Mexiko nicht gerade das Paradies auf sie: Menschenhandel, Zwangsprostitution, Erpressung durch Polizei oder kriminelle Banden sind Alltag. Zudem sind viele Flüchtlingsherbergen in Mexiko überbelegt. Mit der schieren Anzahl an Schutzsuchenden kommen die Behörden nicht mehr klar. »Wir sind komplett voll«, erklärt Gabriela Hernández Chalte. Sie leitet die Flüchtlingsunterkunft Casa Tochan in Mexiko-Stadt.
Die eigentlich 30 Betten haben sie mit einem zusätzlichen Notzimmer auf 40 aufgestockt. Trotzdem reiche es hinten und vorne nicht. »Wir versuchen, allen hier Schutz zu bieten«, sagt Hernández Chalte, jedoch hätten sie »viele wieder wegschicken« müssen. Täglich kommen 75 Essensrationen - Reis, Chicharrón, Kaktus - als Unterstützung von der Regierung Mexiko-Stadts. Die Bundesregierung jedoch helfe kein bisschen. Der größte Teil komme von der Zivilgesellschaft. »Ohne die würde gar nichts gehen. Wir haben auch Ärzte hier, die in ihrer Freizeit die Geflüchteten medizinisch betreuen«, so Hernández Chalte.
Viele sind froh, in Mexiko zu sein. Irgendwo zu sein, bloß nicht in Haiti. Doch Mexiko ist auf so viele Migrant*innen - rein zahlenmäßig - nicht vorbereitet. Hinzu kommen Abertausende mexikanischer Binnenflüchtlinge. Trotzdem machte am Sonntag die Nachricht die Runde, dass eine neue Karawane mit Tausenden Geflüchteten auf dem Weg nach Mexiko-Stadt sei.
24 Jahre, das ist das mittlere Alter der Bevölkerung Haitis. Eine Zukunft, die perspektivloser kaum sein könnte, wartet auf die Jugend in ihrem Heimatland. Entführungen sind an der Tagesordnung. Für die kriminellen Gangs sind diese ein lukratives Geschäft. Doch längst nicht nur ausländische Organisationen und Wohlhabende sind zur Zielscheibe geworden. Normale Menschen, selbst sozial Schwache mit geringem Einkommen - jeden kann es treffen. Wer nicht zahlt, wird oft einfach umgebracht. Raus, heißt die Devise daher, raus um jeden Preis - egal wohin.
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