Der holprige Weg zu »Green Britannia«

Gipfelgastgeber Boris Johnson sieht sein Land als Vorreiter in Sachen Klimaschutz. Kritiker aus Wissenschaft und Umweltschutz bezweifeln dies

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Boris Johnson, noch nie ein Mann der Bescheidenheit, hält Großbritannien für Weltspitze in Sachen Klimapolitik. Als der Berufs-Bluffer vor wenigen Tagen seine als »bahnbrechend« angepriesene Klimastrategie vorstellte, versprach er, Großbritannien zum »Geburtsort der Grünen Industriellen Revolution« zu machen und die Welt auf dem Weg zu »netto null« in Sachen Treibhausgasemissionen anzuführen. Mehr noch: Jahrelang habe es geheißen, eine nachhaltige Wirtschaft erfordere drastische Änderungen des Lebensstils - in seiner Strategie hingegen sei »weit und breit kein Büßerhemd zu sehen«.

Als Gastgeber der UN-Klimakonferenz COP 26, die am Sonntag in Glasgow beginnt, schaut die Welt genau auf Großbritannien. Der Gipfel in Schottland gilt manchen als letzte Chance, eine katastrophale Krise in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch abzuwenden. Entsprechend will Großbritannien mit gutem Beispiel vorangehen, um die Delegationen aus fünf Kontinenten zu schärferen Klimazielen verpflichten zu können. Bereits im September warnte Johnson in einer Rede bei der UN-Vollversammlung, dass sich die Welt »einem kritischen Wendepunkt« nähere. »Es ist an der Zeit, auf die Warnungen der Wissenschaftler zu hören.«

Wenn der Premier die britischen Spitzenleistungen in der Klimapolitik anpreist, ist er nicht völlig realitätsfern. Denn im internationalen Vergleich macht das Land eine gute Figur. Seit 1990 sind die Treibhausgasemissionen um rund 40 Prozent gesunken. Das ist vor allem einer Tatsache geschuldet: Großbritannien hat sich weitgehend von der Kohlekraft verabschiedet und insbesondere in Windparks, Solar- und Bioenergieanlagen investiert, sodass erneuerbare Energien im Jahr 2020 erstmals mehr Strom erzeugten als fossile Brennstoffe. Zudem ist die Industrie sauberer geworden, sowohl das produzierende Gewerbe als auch die Abfallwirtschaft, wo striktere Auflagen bezüglich der Emissionen eingeführt worden sind. Auch die Bevölkerung steht weitgehend hinter der grünen Agenda. In den vergangenen Jahren rückten Klimawandel und Umweltthemen stärker ins Bewusstsein. Laut einer Umfrage im September halten über 30 Prozent der Briten den Klimawandel für eines der größten Probleme des Landes - vor fünf Jahren waren es nicht einmal 10 Prozent.

Die Regierung hat ehrgeizige Ziele auf dem Weg zu »Green Britannia«: Bis 2035 soll der CO2-Ausstoß um 78 Prozent gesenkt werden, Klimaneutralität im Jahr 2050 ist gesetzlich festgeschrieben. Elektroautos gehören zu der Strategie: Ab 2030 kann man in Großbritannien keine Benzin- und Dieselneuwagen mehr kaufen.

Vergangene Woche kündigte Johnson ein weiteres Maßnahmenpaket an, um die britische Wirtschaft auf das Klimaziel hinzulenken. Dazu gehören der Ausbau von Windkraft auf hoher See sowie neue Anlagen zur CO2-Abscheidung. Die Regierung plant Investitionen von 620 Millionen Pfund (etwa 735 Millionen Euro) für den Bau von Elektroauto-Ladestationen. Ab 2035 will Großbritannien allen Strom aus sauberer Energie beziehen, wozu auch die Atomkraft gerechnet wird - ein neuer Meiler soll hinzukommen.

Besonderes Augenmerk gilt auch den Emissionen beim Heizen. In Großbritannien werden vor allem Gasboiler genutzt, die fast ein Drittel des gesamten CO2-Ausstoßes ausmachen. Darum sollen Häuser mit klimafreundlichen Wärmepumpen ausgestattet werden. Die Regierung stellt Haushalten dafür bis zu 5000 Pfund bereit. Zudem soll der Klima-Plan in den kommenden Jahren rund 450 000 Jobs schaffen und 90 Milliarden Pfund an privaten Investitionen anlocken. Große Zahlen, aber Kritiker sind nicht beeindruckt. Bruchstückhaft und zu wenig durchdacht seien die Pläne, sagen Experten.

»Die Netto-Null-Strategie ist ein wichtiger zusätzlicher Schritt in die richtige Richtung, aber sie ist natürlich nicht genug«, meint Jim Watson, Direktor des Instituts für nachhaltige Ressourcen am University College London. »Die Förderung CO2-armer Gebäude ist bescheiden, es gibt kaum Pläne, wie die Gebäude energieeffizienter gemacht werden sollen.« Auch Greenpeace kritisiert die Strategie als halbherzig und lückenhaft. Zum Beispiel fehlten umfassende Investitionen in den öffentlichen Verkehr oder ein konkreter Plan, wie erneuerbare Energiequellen in genügendem Ausmaß entwickelt werden, sagt Rebecca Newsom, Chefin von Greenpeace UK. Sie kritisiert zudem, dass die Regierung weiterhin Öl in der Nordsee fördern lassen will und dass es keinerlei Pläne zur Senkung des britischen Fleischkonsums gibt, um die Abholzung in anderen Kontinenten zu stoppen.

Die britische Klimabewegung hat für die Konferenz in Glasgow daher zahlreiche Proteste angekündigt, um den Druck auf die COP-Teilnehmer und auf die eigene Regierung zu erhöhen. Die Initiative Extinction Rebellion, Fridays for Future und viele andere Organisationen werden in den kommenden zwei Wochen in der schottischen Metropole auf die Straße gehen, es werden zehntausende Demonstrierende auch aus anderen Ländern erwartet. Der große Aktionstag ist der 6. November, wenn in Städten rund um die Welt Menschen für mehr Einsatz gegen den drohenden Klimakollaps demonstrieren wollen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.