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Das Antidoping-Zentrum der Ukraine warnte Athleten jahrelang vor Dopingkontrollen. Vor allem frühere deutsche Partner reagieren enttäuscht
Speak up! Diese englische Aufforderung lässt sich auf dreierlei Art ins Deutsche übersetzen: Sprich lauter! Sprich es aus! Oder: Sprich es an! Sehr wahrscheinlich hatte die Welt-Antidoping-Agentur Wada die letzte Bedeutung im Sinn, als sie 2017 ihrer Whistleblower-Hotline diesen Namen gab. Irgendwie würden aber alle drei ganz gut passen. Zeugen sollten sich nicht nur trauen, Dopingvergehen zu melden. Sie sollten es möglichst umfassend tun, und ihre Aussagen sollten auch laut gehört werden. Viel hat man von der Hotline seither jedoch nicht vernommen. Das liegt vor allem daran, dass die Wada die meisten an sie herangetragenen Hinweise an andere Verbände weiterleitet, die diesen dann nachgehen. Die eigene Investigativabteilung I&I kommt nur dann ins Spiel, wenn niemand anders ermitteln will. Etwa bei der Untersuchung der Moskauer Dopinglabordaten, die sich letztlich als gefälscht herausstellten. Mitte dieser Woche aber wurde die Wada selbst mal wieder laut. Der Vorwurf: Das Nationale Antidoping-Zentrum der Ukraine (NADC) hat jahrelang massiv gegen den Wada-Code verstoßen.
»Ende 2018, Anfang 2019 erhielten wir mehrere Hinweise über ›Speak Up‹«, bestätigt I&I-Direktor Günter Younger gegenüber »nd«, dass erneut Whistleblower den Anstoß für Untersuchungen gegeben hatten. Dabei meldeten nicht nur Sportler Verdächtiges, so der ehemalige bayerische LKA-Abteilungschef. »Das ging durch den ganzen Gemüsegarten: von Athleten bis hin zu Funktionären.« Ihnen zufolge wurden - entgegen aller Regeln im Kampf gegen Dopingbetrug - Athleten vor anstehenden Tests gewarnt und Wettkampf- als Trainingskontrollen umdeklariert. Die Hinweise reichten aus, dass die Wada die »Operation Hercules« startete. Nur den Vorwurf, dass es auch noch ein Dopingsystem im ukrainischen Leichtathletikverband gebe, konnten Youngers Ermittler in der Folge nicht bestätigen.
Deutsche Hilfe blieb unerwünscht
Dass aber Spitzenathleten in der Ukraine seit 2012 - vor allem vor großen Wettkämpfen - davor gewarnt wurden, dass eine Kontrolle anstehe, hinterlässt die Vorstandsvorsitzende der deutschen Anti-Doping-Agentur Nada »mächtig enttäuscht. Ich dachte, wir hätten das gemeinsame Ziel, die sauberen Athletinnen und Athleten zu schützen. Dass dann so gravierende Fehler gemacht werden, enttäuscht schon sehr«, sagt Andrea Gotzmann am Freitag dem »nd«. »Andererseits ist es gut, dass es aufgedeckt wird. Das heißt, dass die Überwachungssysteme der Wada funktionieren.«
Gotzmann hat selbst Erfahrungen mit dem NADC in der Ukraine gemacht. 2016 war unter der Schirmherrschaft der Wada ein Partnerschaftsabkommen der beiden nationalen Agenturen geschlossen worden. »Man wusste - und das ist auch heute noch so -, dass es unterschiedliche Qualitäten und Intensitäten in der Anti-Doping-Arbeit in unterschiedlichen Ländern gibt. Ein Thema, dass von den deutschen Athleten mit Blick auf die Chancengleichheit regelmäßig angesprochen wird«, beschreibt Gotzmann die Entstehungsgeschichte. »Wir wollten eine Antidoping-Organisation unterstützen, die sich weiterentwickeln wollte, aber nicht das Know-how zur Verfügung hatte.« Die Wada habe diejenigen identifiziert, denen das Programm weiterhelfen könne und ihnen dann stärkere Partner an die Seite gestellt. »Die Ukraine hatte damals großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Nada Deutschland«, erinnert sich Gotzmann.
Das auf zwei Jahre ausgelegte Programm wurde aber nach wenigen Monaten von deutscher Seite vorzeitig abgebrochen. Die vereinbarten Ziele, etwa Verbesserungen beim Kontrollsystem, der Prävention oder der Umsetzung des Wada-Codes in nationales Recht, seien von der Ukraine nicht umgesetzt worden. Auch im Bereich der Durchführung von Blutkontrollen blieb bald jegliche Reaktion vom NADC aus. Als es dann auch noch mit der Schwesterorganisation in Polen ein neues Abkommen schloss »war das Projekt für uns beendet«, so Gotzmann. »Wir waren enttäuscht, das muss ich sagen. Die finanzielle Ausstattung der ukrainischen Anti-Doping-Agentur war wirklich mangelhaft, und da hätten wir gern mit guten Ideen, Wissen aber auch mit Material geholfen.« Dazu kam es aber nie.
Stattdessen steht das NADC jetzt international am Pranger. Dabei konnten die Wada-Ermittler diesmal nicht einmal auf Labordaten zurückgreifen, wie noch im Fall der russischen Antidoping-Agentur Rusada, als Whistleblower Grigori Rodtschenkow einen riesigen Datensatz samt Tabellen, E-Mails und Testdaten ausgeliefert hatte. Dennoch, sagt Günter Younger, habe man genügend Beweise für die Anschuldigungen gefunden: »Als wir wussten, wo und wonach wir im Heuhaufen suchen mussten, sind wir fündig geworden.« Da die Ermittlungen und Beurteilungen noch nicht vollständig abgeschlossen sind, ging Younger nicht weiter ins Detail.
Eins aber scheint klar: Wie oft Athleten gewarnt wurden, ob es Dutzende, Hunderte oder gar Tausende Male waren, kann die Wada nicht mal schätzen. Den Ermittlern war es offenbar nur möglich, jene Fälle zu bestätigen, für die sie konkrete Hinweise bekommen hatten. Darüber hinaus fehlt der Zugriff z. B. auf E-Mails oder Chat-Protokolle, den die Wada auch nicht einfordern kann, weil sie keine Polizeibefugnisse besitzt.
Gegen einen Ansprechpartner beim NADC habe es schon 2017 Korruptionsvorwürfe gegeben, bestätigte die Nada nun dem »nd«. »Wir haben diese Information mit der Wada geteilt. Ich nehme an, dass die ›Operation Hercules‹ auch darauf aufgebaut hat«, vermutet Gotzmann. Sie habe aber nie gehört, dass gegen diese Person je Sanktionen ausgesprochen worden wären.
Gotzmann weiß auch nicht, ob es diese Person war, die teilweise ganze Nationalteams in die Räume des NADC zum Test eingeladen hat. So ist eine sinnvolle Antidoping-Arbeit jedenfalls vollkommen wirkungslos, da verbotene Substanzen rechtzeitig abgesetzt oder ausgespült werden können und oft nach 24 Stunden gar nicht mehr nachweisbar sind. Laut einem ersten Wada-Bericht soll das NADC sogar Angebote von Athleten angenommen haben, die ihre Termine für einen Dopingtest selbst vorgeschlagen hatten.
Ein weiteres Vergehen betrifft das bewusst falsche Deklarieren von Wettkampf- als Trainingskontrollen. Diese Unterscheidung ist wichtig, da im Wettkampf bestimmte Stimulanzen verboten sind, im Training aber nicht. Daher werden in Trainingskontrollen derlei Substanzen auch nicht gezielt gesucht. Für sechs Falschmeldungen hat die Wada Beweise gefunden. Alle stammen aus dem Jahr 2021. Für die Jahre davor wurden keine falsch deklarierte Proben entdeckt. Allerdings muss das nicht heißen, dass auch diese Prozedur nicht schon länger angewendet wird, schließlich werden die Formulare dafür bei negativen Proben nach 18 Monaten regulär vernichtet.
Günter Youngers Team hat die sechs Proben nachanalysieren lassen, diesmal auch auf im Wettkampf verbotene Substanzen, aber keine gefunden. »Hätte es auch noch positive Proben gegeben, wäre es für das NADC sicher noch schlimmer gewesen«, sagt er. Dass sich verbotene Stoffe mittlerweile abgebaut hätten, schließt er aus: »Die Proben werden ja gekühlt gelagert.«
Also musste ein anderes Motiv dahinter stecken. Die Ukrainer sagen, dass gleichzeitig zu den Wettkämpfen, bei denen die Proben genommen wurden, auch ein Trainingslager stattgefunden habe und es so zu einem Missverständnis gekommen sei. Diese Argumentation halten die Ermittler jedoch für unglaubwürdig. Vielmehr vermuten sie, dass es darum ging, den Athleten offiziell noch mehr Trainingskontrollen ins Buch zu schreiben. Eine bestimmte Anzahl davon war schließlich für eine Olympiateilnahme an den Sommerspielen in Tokio vorgeschrieben.
Die Verfehlungen scheinen im mittleren Management des NADC passiert zu sein. So zumindest kann man den Bericht der Ermittler deuten. Bei Befragungen der mutmaßlichen Täter »haben die es erst mal abgestritten, dann noch mal abgestritten. Als wir ihnen aber immer mehr Beweise vorgelegt haben, haben sie es dann doch zugegeben«, erzählt Younger.
Die ersten Köpfe rollen schon
Vermutlich ist dem Chef des NADC keine direkte Beteiligung nachzuweisen gewesen, denn laut Wada-Bericht wurden einem nicht näher genannten »NADC Executive« die Ermittlungsergebnisse präsentiert, so dass dieser die Möglichkeit bekam, darauf zu reagieren und selbst eine interne Untersuchung einzuleiten. Wäre der verantwortliche Funktionär selbst Ziel der Ermittlungen gewesen, hätte er diese Chance sicher nicht bekommen. Eine solche interne Ermittlung habe er dann zwar angekündigt, in den Monaten seitdem sei aber nichts passiert, heißt es in dem Wada-Bericht. Ob die Ermittlung etwas geändert hätte, ist bei der Schwere der Vergehen allerdings auch fraglich.
Dennoch ist NADC-Direktor Iwan Kurlischuk am Mittwoch wegen der Affäre zurückgetreten. Das gab der ukrainische Sportminister Wadym Guttsait bekannt. Auch Kurlischuks Stellvertreter Jaroslaw Krutschek habe sein Amt zur Verfügung gestellt. Im Gegensatz zur großen russischen Dopingaffäre der vergangenen Jahre steht der Minister selbst diesmal nicht im Verdacht der Mittwisserschaft. »Wir haben keine Hinweise auf eine staatliche Einflussnahme gefunden«, bestätigt Younger.
In der Ukraine selbst haben seine Mitarbeiter übrigens nicht ermitteln können. Die dafür nötigen Reisen hatte die Pandemie verhindert. »Wir mussten alle Befragungen virtuell machen, das ist nie optimal, aber nur so ging es in dieser Zeit«, erklärt Younger. Erhöht sich durch die mediale Berichterstattung nun aber der Ermittlungsdruck innerhalb der Ukraine, schließt er nicht aus, dass noch mehr ans Licht kommen könnte.
Bis dahin muss das Compliance Review Committee der Wada nun entscheiden, was sie mit Youngers Ermittlungsergebnissen anstellt. Derzeit stehen alle Zeichen auf Suspendierung des NADC. Ob auch Sportler gesperrt werden, die von den Machenschaften profitierten, ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht auszuschließen.
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