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Nicht alle wollen gedenken

Die »Täterstadt« Zwickau ringt mit der Erinnerung an den NSU - und mit dessen Erben

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Auf dem Grundstück in der Frühlingsstraße 26 in Zwickau wachsen Gras und Büsche. Sie sind dicht und hoch geworden in den knapp zehn Jahren, seit sie gepflanzt wurden. Bis 2011 stand an ihrer Stelle ein zweistöckiges Mietshaus. Am 4. November jenes Jahres jagte Beate Zschäpe es in Teilen in die Luft. Sie war einziges überlebendes Mitglied des Terrortrios »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU), nachdem sich ihre beiden Mittäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in einem Wohnmobil in Eisenach getötet hatten. Ihre Nachbarn im Stadtteil Weißenborn mussten zur Kenntnis nehmen, dass jahrelang Rechtsterroristen unerkannt in ihrem gutbürgerlichen Viertel gelebt hatten. Im Schutt des Hauses fanden Ermittler die Pistole, mit der der NSU ab dem Jahr 2000 neun Ladenbetreiber und Unternehmer mit griechischen und türkischen Wurzeln sowie eine Polizistin ermordet hatte.

In der Galerie, die der Kunstverein »Freunde aktueller Kunst« an einer Einkaufsstraße im Zentrum von Zwickau betreibt, waren der Schutthaufen und die darin herumstochernden Polizeischüler ein paar Jahre später auf einem großen Bildschirm zu sehen. Die Künstlerin Yvon Chabrowski hatte die Szene in einer Videoinstallation verarbeitet. »Kunst existiert nicht im luftleeren Raum«, sagt Klaus Fischer, der Leiter der Galerie: »Sie hat gesellschaftliche Relevanz und kann Impulse auch zur Erinnerungskultur geben.« Mit Blick auf den NSU haben die »Freunde aktueller Kunst« das über die Jahre immer wieder versucht, zuletzt mit einem von Hans Haacke gestalteten Banner, das drei Monate lang am Zwickauer Markt aufgehängt wurde. »Wir (alle) sind das Volk« war dort zu lesen, auf Deutsch, aber auch in elf weiteren Sprachen von Arabisch über Polnisch bis Türkisch. Es sei »eine eminent politische Arbeit«, sagt Fischer - und die Gegenthese zu der Auffassung, die der NSU durch seine brutale Mordserie an Menschen mit Migrationsgeschichte durchzusetzen suchte.

Es ist freilich auch ein Verständnis von Kunst, das in Teilen der Zwickauer Stadtgesellschaft auf Abwehr stößt. Als in diesem Juli in der Galerie der Kunstfreunde eine Ausstellung von Pipilotti Rist eröffnet werden sollte, versammelte sich vor deren großen Fenstern eine Gruppe von Querdenkern und Rechtsextremen mit Trommeln, Spruchbändern und Megafon, filmte Besucher der Vernissage und ging diese aggressiv an. Er habe die Situation als äußerst bedrohlich empfunden, sagt Fischer: »Es ging denen klar um Einschüchterung.« Neu sind die Anfeindungen freilich nicht. Vor einiger Zeit zeigte Fischer Werke Leipziger Künstler. Deren Namen standen an den Fenstern, ein paar seien »nicht gerade urdeutsch« gewesen, sagt er. Auch da gab es üble Pöbeleien. »Man warf uns vor, als deutsche Galerie Ausländer auszustellen«, sagt der Galeriechef: »Es hieß: 'Das werden wir ändern.'«

Wolfgang Wetzel zieht eine gerade Linie vom NSU zu solchen Vorfällen. »Das hat Tradition in der Gegend hier«, sagt er. Wetzel, Sozialarbeiter und zuletzt einige Monate als Nachrücker Mitglied der grünen Bundestagsfraktion, beobachtet eine hohe »Grundakzeptanz« für rechtes Gedankengut in der Region um Zwickau und Chemnitz, den beiden Orten, in denen der NSU jahrelang unerkannt und unbehelligt lebte. Wetzel stammt aus Schneeberg im Erzgebirge, wo im Jahr 2013 viele Bürger an ausländerfeindlichen »Lichtelläufen« teilnahm, obwohl diese ein NPD-Mann organisiert hatte. »Da liefen Verwandte und Bekannte mit«, sagt Wetzel: »Das war ein Weckruf.« In den Jahren seither ist der Hass salonfähig geworden: Pegida, der Aufstieg der AfD, die aggressiven Auftritte der rechten Splitterpartei III. Weg in Westsachsen. Wetzel, der 1998 zunächst wegen der Arbeit nach Zwickau kam, seit 2007 dort wohnt und sich als Stadtrat politisch exponiert, findet immer wieder Nazisticker an seiner Haustür. Er sei eine »gehasste Person«, sagt er: »Grün, schwul und katholisch - das ist wohl ein bisschen viel für manche.« Die Rechtsdrift in der Region, die sich auch in den ungenierten Auftritten vor der Galerie der Kunstfreunde zeigt, bereitet ihm große Sorgen: »Es scheint hier eine Art Gewächshausklima dafür zu geben.«

Als 2011 der NSU aufflog, wollten viele von einem förderlichen Klima für die Nazitruppe in der Stadt nichts wissen. Zwar kamen Szenebeobachter schnell zum Schluss, dass die Rechtsterroristen nicht zuletzt wegen eines dichten Netzwerks von Unterstützern in die Region gezogen waren. Viele der Bürger und Kommunalpolitiker in Zwickau beteuerten aber, die Stadt sei keinesfalls ein Hort von Nazis; Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt hätten nur zufällig dort gewohnt. Mit Blick auf den Herkunftsort der Täter redeten sie lieber von einer »Jenaer Zelle«. Man fürchtete für das Image der Stadt und deren Ansehen bei Investoren, und man hegte die Hoffnung, dass irgendwann Gras über die Sache wachsen würde - so wie es in der Frühlingsstraße 26 im Wortsinne geschah.

Es gab freilich auch stets Menschen, die sich dem widersetzten. 2013 etwa trat eine Gruppe junger Aktivisten auf, die sich den symbolträchtigen Namen »Grasslifter« gab und verhindern wollte, dass mit dem Gras auch das Vergessen gedeiht. Sie setzte auf künstlerische Aktionen, auf Theater oder provokante Interventionen im öffentlichen Raum. Im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren gegen Beate Zschäpe entstand die Initiative »Offener Prozess«, die nun anlässlich des 10. Jahrestags der NSU-Selbstenttarnung Mitinitiator der bundesweiten Kunst- und Theateraktion »Kein Schlussstrich!« ist und derzeit in Chemnitz auch eine viel beachtete Ausstellung zum Thema zeigt.

In Zwickau wurde nach langer und kontroverser Auseinandersetzung über geeignete Formen des Erinnerns 2019 ein Baum zum Gedenken an die NSU-Opfer gepflanzt - und nach wenigen Tagen wieder abgesägt. Die Empörung über die Schändung schlug hohe Wellen und mündete darin, dass am Schwanenteich nun zehn Bäume für die zehn Opfer des NSU wachsen. Wolfgang Wetzel hält es für sehr wichtig, dass auch in Zwickau als einer »Stadt der Täter« an die Getöteten erinnert wird: »Wir sehen hier ja ein Beispiel für die Gewalt, in der völkisch-rassistisches Gedankengut münden kann.« Er weiß freilich, dass derlei Gedenken nicht von allen in der Stadt mitgetragen wird. Dass der erste Baum gesetzt wurde, sei maßgeblich Zwickaus langjähriger SPD-Oberbürgermeisterin Pia Findeiß zu danken - eine Politikerin, die von den gleichen Kreisen massiv angefeindet wurde, die auch vor der Galerie der Kunstfreunde pöbeln. »Eine Mehrheit im Stadtrat«, ist Wetzel sicher, »hätte es für den Gedenkbaum nie gegeben.« Dass es inzwischen zehn Bäume sind, liege aber daran, dass sich Menschen ehrenamtlich engagierten und spendeten.

Mancher empfindet die Debatte, wie in Zwickau an das Thema NSU erinnert wird, als quälend und mühsam. Aber, räumt Wetzel ein, »die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Westen nach 1945 war auch quälend«. Und auch wenn manches zu lange dauert, wenn Widerstände oder Desinteresse groß sind, wenn bis zu sichtbaren Zeichen der Erinnerung Jahre verstreichen: »Der Prozess, wie wir dahin kommen, ist bereits Teil der Aufarbeitung«, sagt er. Dieses Jahr streckt die Stadt ihre Hände auch in Richtung der Wohnorte der Opfer aus. Sie hat angeboten, auch für diese Bäume zu spenden: als Symbol eines »wachsenden Gedenkens«. Die Idee entstand im örtlichen Demokratiebündnis, in dessen Beirat Wetzel mitarbeitet und das derzeit um Spenden für die Aktion wirbt. Zwei Städte, freut sich der grüne Stadtrat, hätten das Angebot angenommen: »Ein gutes Zeichen.«

Eine andere Idee, die seit Jahren diskutiert wird, ist die Errichtung eines Dokumentationszentrums. Nach Ansicht von Hannah Zimmermann von der Initiative »Offener Prozess« könnte es »ein Archiv des Rechtsterrorismus in Deutschland« werden und gleichzeitig den Widerstand dagegen darstellen. Den Vorschlag, ein solches Zentrum zu errichten, hatte Rathauschefin Findeiß 2012 geäußert, aber auch angemerkt, dass die Stadt allein damit »überfordert« sei; Land und Bund sollten helfen. Die Forderung blieb lange ungehört; bis heute gibt es ein solches Zentrum nicht.

Dabei hätte es wichtige Aufgaben, sagt René Hahn, Stadtrat der Linken und aktiv im alternativen Jugendzentrum »Roter Baum« in Zwickau. Dort wird seit 2012 jährlich ein Festival veranstaltet, bei dem Vorträge und Workshops zum Thema Rechtsextremismus und NSU mit Konzerten politisch engagierter Bands verbunden werden. Das Interesse bei Jugendlichen sein groß, sagt Hahn: »Viele von denen sind durch Fridays for Future politisiert worden, und wer sich gegen den Klimawandel engagiert, der will meist auch eine bessere Gesellschaft.« Allerdings haben zumindest die jüngeren Besucher keine eigenen Erinnerungen an den NSU, »und in der Schule wird nicht darüber geredet«, sagt Hahn: »Es braucht Orte, wo die Erinnerung wach gehalten wird und man Schlussfolgerungen daraus zieht.«

Womöglich kommt zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU ja Bewegung in die Sache. Bei der Initiative »Offener Prozess« verweist man auf die gleichnamige Chemnitzer Ausstellung. Sie wird bis 2025 an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik und Europa gezeigt und könnte »der Kern dessen sein, was künftige das Dokumentationszentrums wird«, sagt Hannah Zimmermann. Das sächsische Ministerium für Justiz, das auch für Demokratie und Europa zuständig ist, hat laut ihren Angaben eine Förderung in Aussicht gestellt, mit der ab nächstem Jahr ein Konzept erarbeitet und eine Machbarkeitsstudie erstellt werden sollen. Die zuständige Ministerin Katja Meier (Grüne) ist gebürtige Zwickauerin; das Ministerium ist auch Partner der Stadt bei einer Gedenkveranstaltung an diesem 4. November. Dabei soll bei einem Festakt im Zwickauer Dom an den NSU-Terror und dessen Opfer erinnert werden; danach gibt es eine prominent besetzte Podiumsdiskussion zum Thema »Reicht es?! - 10 Jahre NSU-Aufarbeitung«.

Bisher, sagt Zimmermann, gibt es zwar viele Wünsche an das künftige Zentrum: Diese solle ein »offenes, lebendiges Archiv sein« und zu guten Teilen »von den Betroffenen selbst gefüllt werden«; die Rede ist von einem »Ort migrantischer Selbstorganisation«. Wichtige Fragen sind aber offen - nicht zuletzt die, ob sich die Einrichtung in Zwickau, Chemnitz oder Jena ansiedelt. Die jeweilige Kommune müsste nicht zuletzt bereit sein, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Signale der politisch Verantwortlichen, sagt Hannah Zimmermann, gebe es aus Zwickau nicht. Wolfgang Wetzel ist skeptisch, dass sich daran etwas ändern: »Das Dokumentationszentrum ist ein Reizwort«, sagt er. Sein Stadtratskollege René Hahn ist zuversichtlicher. »Wenn Bund und Land sich dazu bekennen, zieht auch die Stadt mit.« Er hat auch schon eine Idee, wo das Dokumentationszentrum errichtet werden könnte: in der Frühlingsstraße 26; dort, wo Beate Zschäpe am 4. November 2011 den NSU-Unterschlupf auszulöschen suchte und wo zehn Jahre später das Gras wächst.

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