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Wut im Block
In Friedrichshain werden von Roma bewohnte Häuser entmietet. Sie fühlen sich vom Bezirk im Stich gelassen.
»Ich habe Angst, dass wir auf der Straße landen«, sagt David und zieht an seiner Zigarette. »Wir«, das sind er, seine Eltern und sechs Geschwister. Roma, wie eigentlich alle in dem verwitterten Häuserblock an der Straße der Pariser Kommune in Berlin-Friedrichshain. Alle stammen sie aus einem 6000-Einwohner-Örtchen, das rund 35 Kilometer von der rumänischen Hauptstadt Bukarest entfernt liegt. Meist große Familien, denn sie gehören einer Pfingstgemeinde an, sind auf traditionelle Werte eingeschworen. Keine Verhütung, die Frauen bleiben zu Hause.
Der 22-jährige David lebt, wie fast alle, seit 2015 in dem Plattenbaublock, in den seit DDR-Zeiten nur wenig Geld gesteckt worden ist. Alles ist marode. Die Heizungen funktionieren oft nicht, eine Wohnung wurde vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sogar als unbewohnbar deklariert. Im Sommer lief zwei Wochen lang das Abwasser aus einem gebrochenen Rohr in den Keller. Erst vor einer Woche wurde die Heizung angestellt.
Die Eigentümerin, eine Russin, will das Haus abreißen. Der Wohnblock soll einem doppelt so großen Ensemble aus Wohnungen und Gewerbe weichen. Die Fläche dahinter soll von einer Gewerbebrache zu einem ähnlich schicken Standort verwandelt werden, das scheint maßgeblicher Treiber der Pläne auch für diesen Block zu sein. Mit Kündigungsklagen versucht die Eigentümerin, die das Ensemble vor rund einem Jahrzehnt ersteigert hatte, die Bewohner loszuwerden. Auch Davids Familie ist betroffen. »Am 9. November ist der Gerichtstermin«, berichtet er. Ausgerechnet dieses unrühmliche Datum der deutschen Geschichte. Es geht um Rückstände aufgrund des gefallenen Berliner Mietendeckels. »Wir haben den Brief nicht bekommen, in dem steht, wie viel wir nachzahlen müssen«, sagt David. Mehrmals, auch persönlich bei der Hausverwaltung, habe der Vater versucht, den Schrieb zu erhalten. »Ohne das Schreiben zahlt das Jobcenter aber nicht.« Bereits 2020 hatte die Familie ein Verfahren am Hals. »Weil mein Vater einmal innerhalb von fünf Jahren die Miete einen Tag oder zwei Tage zu spät überwiesen hat«, so David. Das Gericht wies die Klage ab.
»Wie kann es sein, dass die Eigentümerin des Blocks so viel Macht hat, dass sie machen kann, was sie will?«, will er wissen. Und: »Wo setzt der Bezirk die Rechte der Mieter durch? Wie kann der Bezirk eine Abrissgenehmigung erteilen, wenn es die Ersatzwohnungen nicht gibt?«
Anfang Oktober hat das Bündnis gegen Antiziganismus und für Roma*-Empowerment gemeinsam mit der AG Berliner Roma und weiteren einen Brandbrief an die designierte Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann (Grüne) geschrieben. Man sei »alarmiert über die noch immer ausbleibenden Lösungen für die Wohnsituation der Bewohner*innen«, heißt es dort. Die Lösungsfindung laufe seit Jahren schleppend und trotz des angestrebten Sozialplanverfahrens befürchte man, dass ungefähr 30 Familien mit Kindern kurz- und mittelfristig auf der Straße landeten.
»Es gibt kein Haus, um das ich mich so sehr gekümmert habe wie dieses«, sagt Bezirks-Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne) zu »nd«. Er hat die Federführung in dem Verfahren übernommen, für das auch Bezirks-Sozialstadtrat Knut Mildner-Spindler (Linke) zuständig ist. »Wir sind genau an dem Punkt, an dem eine Lösung in greifbarer Nähe ist«, erklärt er weiter. Er verweist darauf, dass die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM) auf Bitte des Bezirks im Jahr 2019 mit der Eigentümerin über den Kauf des Blocks verhandelt hatte. Doch sie führten zu keinem Ergebnis. »Kaufpreis und Zustand der Liegenschaft waren nicht in Deckung zu bringen«, heißt es auf nd-Anfrage von der WBM zu den Gründen.
Die Abrissgenehmigung liegt zwar vor, jedoch kann sie nicht vollzogen werden, so lange kein Ersatzwohnraum für die zwei- bis dreijährige Bauzeit nachgewiesen ist. Im Sozialplanverfahren wird den betroffenen Mietern das Recht eingeräumt, nach Fertigstellung wieder in den Neubau einzuziehen - zu Mieten, die den aktuellen entsprechen. »Die Unterlagen liegen derzeit zur Unterzeichnung in Moskau«, berichtet Florian Schmidt.
In einer langen Stellungnahme erklärt der Bezirk, wie oft bereits Begehungen der maroden Immobilie stattgefunden haben, welche Auflagen erteilt worden sind und dass unabhängig vom Sozialplanverfahren durch die vom Bezirk finanzierte Mieterberatung Asum bereits für 16 Haushalte mit 47 Menschen »geeignete Umsetzwohnungen« gefunden werden konnten.
»Die Leute, die bereits ausgezogen sind oder das noch tun müssen, zum Beispiel wegen Räumungsklagen, werden keine Chance haben, später wieder in den Neubau einzuziehen«, sagt Marcel zu »nd«. Er ist Sozialarbeiter beim Streetwork-Projekt Gangway. Seit Jahren betreuen sie die Bewohner von einem Büro im benachbarten nd-Gebäude aus. Eigentlich sind sie nur für Jugendliche zuständig. Um das zu gewährleisten, müssen sie sich jedoch auch um die Belange der Eltern kümmern. »Wir machen seit Jahren weit mehr als unser Auftrag ist«, erklärt Marcel. Florian Schmidt als verantwortliche Person sei lange nicht erreichbar gewesen.
»Wir können den Leuten von Gangway gar nicht so viel danken, wie wir wollten«, sagt Bewohner David. Auch der Jugendclub war eine wichtige Stütze für ihn. »In dem bin ich groß geworden. Wenn ich nicht mehr in die Schule gehen wollte, haben sie mir geholfen und mir Mut gemacht«, berichtet er. Der 22-Jährige will Soziale Arbeit studieren, derzeit macht er eine Ausbildung im sozialen Bereich. 2019 verlieh ihm der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg den Jugend-Engagementpreis »Wenn wir irgendwo alleine in Marzahn oder Hellersdorf gewesen wären, hätten wir bestimmt nicht diese Möglichkeit gehabt«, ist David überzeugt.
Er und die anderen hängen nicht an dem Haus als solchem. »Bei uns sieht es noch aus wie zu DDR-Zeiten. Ich wollte daher nie Freunde nach Hause einladen«, erzählt er. Seine Mutter wollte wegen des schlechten Zustands schon ausziehen. »Mein Vater wollte das aber nicht wegen der Gemeinschaft.« In Häusern, wo viele Deutsche wohnen, hätten andere die Wohnung schon wieder verloren, weil den Nachbarn die Kinder zu laut gewesen seien. »Hier können die Kinder laut sein. Wir haben Nachbarn, die mein Vater schon seit seiner Geburt kennt. Es gibt eine große Solidarität, wir kennen uns und können füreinander da sein«, sagt David. Man könne miteinander reden, sehe, wenn es jemandem schlecht geht. Man könne sich auch untereinander Geld leihen oder erklären, was in Amtsbriefen stehe. »Wie soll das gehen, wenn die einen in Marzahn wohnen, die anderen in Lichtenberg und jemand vielleicht noch in Friedrichshain?«, fragt David.
»Die Solidarität kommt nicht nur, weil wir alle aus einem Dorf kommen, sondern ist uns Roma mit einer jahrhundertelangen Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung ins Blut übergegangen. Das ist ein Schutz für uns«, sagt der junge Mann. Wichtig sei auch, dass die Kinder aus dem Haus in den benachbarten Schulen nicht allein sind, sondern aufeinander aufpassen könnten bei Problemen. Auch sei Friedrichshain-Kreuzberg ein multikultureller Bezirk, in dem man als Ausländer nicht gleich komisch angeschaut werde, sich sicher fühle. »Wenn meine Mutter in Marzahn mit ihrem langen Rock und Kopftuch herumläuft, ist das gleich etwas anderes.«
Traumatisch war die über den Block verhängte Quarantäne im letzten Jahr. »Nach drei Tagen kam ein großer Laster mit Lebensmitteln. Damit wurden nach außen alle Klischees bedient, die über uns Roma kursieren. Immer wieder waren Pressefotografen da, wir kamen uns vor wie Tiere im Zoo. Wir haben uns im Stich gelassen gefühlt«, berichtet David.
»Wenn wir durch ganz Berlin verstreut werden, wird das schwierig. Aber das beachtet die Politik nicht, dort wird höchstens geschaut, ob sich irgendwo eine Ersatzwohnung für uns finde«, erklärt der Rom.
»Die Hauptidee ist, dass alle zurückkommen sollen«, entgegnet Baustadtrat Florian Schmidt. »Das Land Berlin oder die Diakonie könnten den Wohnteil des Neubaus kaufen und daraus ein Haus für Roma inklusive sozialer Betreuung machen«, so seine Idee. Die Eigentümerin habe erklärt, verkaufswillig zu sein. »Das könnte als Pilotprojekt ein Zeichen setzen mit deutschlandweiter Ausstrahlung«, sagt Schmidt. »Das könnte auch als ein Punkt in den auszuhandelnden rot-grün-roten Koalitionsvertrag aufgenommen werden«, so der Stadtrat weiter.
Doch die Eigentümerin schafft weiter Fakten. »Allein im Oktober sind mindestens zwei Familien sicher und eine weitere möglicherweise aus dem Haus entfernt worden«, berichten die Gangway-Sozialarbeitenden. Auch ist Bewohnern Geld für den Auszug angeboten worden. Inzwischen sind vor allem noch die großen Haushalte im Block übrig. »33 Haushalte mit über 200 Menschen«, nennt Marcel Zahlen. Für die wird es besonders schwierig werden, Ersatzwohnungen zu finden. Diese Sorge hat auch der Bezirk.
»Aktuell zeigt sich, dass bei einem Bezirkswechsel durch einen Umzug den Menschen große bürokratische Hürden und vor allem weitere Diskriminierungserfahrungen, beispielsweise durch Jobcentermitarbeitende, bevorstehen. «, befürchtet Berit. Ähnliche soziale Netzwerke wie sie in Friedrichshain entstanden sind, existieren in anderen Bezirken zudem aktuell nicht. »Was hier in Friedrichshain über die Jahre aufgebaut wurde, ist einmalig. Die Jugendlichen sind hier vernetzt und besuchen Schulen vor Ort. Die Menschen haben Support durch das Netzwerk und wissen, wo sie Unterstützung bekommen«, so Berit weiter.
Auch die Zusagen, was das Sozialplanverfahren betrifft, sehen die Gangway-Mitarbeitenden kritisch. »Das eingestellte Geld wird bei Weitem nicht ausreichen,um die Arbeit mit den Menschen im Haus vernünftig zu machen«, heißt es. Insgesamt bleibt es fraglich, ob die Menschen wieder in den Neubau zurückziehen werden können.
»Sollte der Sozialplan nicht unterschrieben werden, werden wir das ganze Arsenal herausholen, das uns zur Verfügung steht«, kündigt Florian Schmidt hingegen an. Also beispielsweise die Verpflichtung zur Behebung der zahlreichen Mängel am Gebäude. »Ansonsten müssen wir den Block unter Verwaltung eines Treuhänders stellen«, so Schmidt.
»Wir wollen gerne in Friedrichshain bleiben, aber wir finden hier keine Wohnung«, sagt Bewohner David. »Und wir wollen wieder zurückkommen können, wenn hier neugebaut worden ist«, fordert er.
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