Obdachlos in Tripolis

Migranten aus Subsahara-Afrika stranden zu Hunderten in Libyen und werden dort wie Vieh gehalten

  • Mirco Keilberth, Tunis
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Flüchtlingsstrom über das zentrale Mittelmeer reißt nicht ab. Nach der Rettung von mehr als 800 Menschen hat das Rettungsschiff »Sea-Eye 4« Italien zur Nennung eines sicheren Hafens aufgefordert. Für alle Menschen an Bord müsse die Ausnahmesituation sofort beendet werden, erklärte die deutsche Hilfsorganisation Sea Eye am Freitag über Twitter. Die libysche Küstenwache fing nach eigenen Angaben 280 Migranten ab, die nach Europa wollten. Die Menschen waren demnach mit Holzbooten und einem Schlauchboot unterwegs, als sie am Dienstag gerettet wurden, teilte die libysche Marine auf Facebook mit. Sie seien der Behörde für den Kampf gegen die illegale Migration übergeben worden.

Was sie in Libyen erwartet, wurde in den vergangenen Wochen nochmals überdeutlich. Mehr als einen Monat nach dem Sturm von Sicherheitskräften auf ihre Unterkünfte leben immer noch mehrere Tausend Migrant*innen und Flüchtlinge in der libyschen Hauptstadt auf der Straße. Rund um das Hauptquartier des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) im Stadtteil Al-Serradsch übernachten laut libyschen Menschenrechtsaktivisten zur Zeit bis zu 2000 Menschen auf der Straße. Medizinische Hilfe und Lebensmittel erhalten sie nur unregelmäßig, da die im Dienst der Einheitsregierung stehenden Milizionäre Journalisten und Hilfsorganisationen von dem Gebäude fernhalten. Die UNHCR-Mitarbeiter trauen sich offenbar nicht einmal, schwangere Frauen und Kinder auf dem Gelände der Vereinten Nationen in Sicherheit zu bringen.

Die Freiwilligen des Roten Halbmondes versorgen die von Milizen verletzte Migranten überall in der Stadt, halten sich aber fern von dieser schwersten humanitären Krise in Tripolis seit 2014. Bis vor ein paar Tagen war es nur eine kleine Gruppe von Helfern, die mehreren aus Subsahara-Afrika stammenden Menschen das Leben rettete. Der Politologie-Student Moatasam Senoussi berichtet am Telefon, dass er am ersten Oktober von der Flucht mehrerer Tausend Migranten und Flüchtlinge im Radio gehört hatte. Nach einer großangelegten Verhaftungsaktion in dem Stadtteil Gargaresch waren sie nachts aus ihren angemieteten Wohnungen geholt und in Internierungslager gebracht worden. Nach einer Woche ohne ausreichend Wasser und Nahrung, unter ständigen Schlägen der Wächter revoltierten die Gefangenen und durchbrachen die von Stacheldraht gesicherten Metalltore. Mehrere Menschen starben im Kugelhagel der Bewacher. »Als ich die kilometerlange Kolonne von Obdachlosen sah, habe ich befreundete Ärzte davon überzeugt zu helfen«, so der 19 Jährige Senoussi.

Was die Verhaftungswelle und den Gefängnisaufstand ausgelöst habe, sei unklar, sagte der Leiter der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Libyen, Federico Soda. »Sicher ist aber, dass die Wachen auf die flüchtenden Menschen geschossen haben, die in dem überfüllten Al-Mabani-Zentrum zusammengepfercht worden waren.« In dem Glauben, vom UNHCR Schutz zu erhalten, strömten die meisten in den Stadtteil Al-Serradsch. Bis auf ihre Kleidung haben viele bei der von Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba angeordneten Aktion alles verloren: Telefone, Reisepässe und Dokumente der UN-Organisationen IOM und UNHCR liegen auf den verwaisten Nebenstraßen von Gargaresch. Gepanzerte Fahrzeuge des Innenministeriums patrouillieren dort, um eine Rückkehr der Deportierten zu verhindern. Immer wieder war es in den Monaten zuvor zu Konflikten mit libyschen Nachbarn gekommen, die sich über die zunehmende Rechtlosigkeit in dem wohlhabenden Vorort Gargaresch beschwerten.

Man gehe gegen Menschenhändler und Kriminelle vor, die Bürger in Angst und Schrecken versetzten, erklärte Premier Dbaiba bei einem Besuch in Gargaresch. Beobachter vermuten, dass der nur bis Dezember regierende Geschäftsmann mit der brutalen Aktion seine Chancen auf das Präsidentenamt verbessern will. Am 24. Dezember soll in Libyen gewählt werden. Die Migranten haben die Vorfälle mit ihren Telefonen gefilmt, die Videos zeigen, mit welcher brutalen Gewalt die Sicherheitskräfte auch diesmal vorgegangen waren. »Weil das Telefonnetz ausfiel und Schüsse fielen, herrschte Panik unter den auf die Straße getriebenen Menschen in Gargaresch. Wir wurden mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen abgeführt«, berichtet der Nigerianer Artur. Die Migrant*innen scheinen die Opfer des politischen Neuanfangs zu sein, mit dem der Waffenstillstand zwischen ost- und westlibyschen Gegnern in einen demokratischen Übergangsprozess überführt werden soll.

Zusammen mit fünf anderen Freiwilligen fuhr Moatasam Senoussi Menschen mit Schusswunden und Schwangere in Privatwagen heimlich zu Ärzten in der Umgebung. »Wir müssen jede Fahrt von den Milizionären genehmigen lassen, sie sind wie viele Anwohner gegen die Migranten«, sagt der Student, »die Ärzte haben auch Angst vor Repressalien der libyschen Anwohner.« Die freiwilligen libyschen Helfer schätzen die Zahl der Obdachlosen, Migranten und Flüchtlinge in Tripolis auf 10 000. Offizielle Zahlen gibt es nicht, da viele Menschen als Tagelöhner arbeiten und sich nachts in Parks oder auf Baustellen verstecken.

Die Verzweiflung über den Mangel an Wasser, Nahrung und Platz gehört nun zum Alltag - direkt unter den Augen der UN. Die libyschen Behörden hatten versprochen, die Mehrheit der Verhafteten schnell in ihre Heimat zurückzufliegen. »Doch die Repatriierung ist ohne Papiere und Hilfe von IOM oder dem UNHCR kaum möglich«, sagt UNHCR-Mitarbeiter Meftah Lawel. Die 28-jährige Queen aus Nigeria hat sich mit ihrem Sohn auf dem Arm in das benachbarte Tunesien retten können. In Zarzis berichtet sie dem »nd« über Folter und Zwangsprostitution, auch in den Lagern der Regierung. »Viele der Migranten wurden verhaftet, um sich später wieder freikaufen zu müssen«, vermutet sie. »Das ist das Geschäftsmodell vieler Milizen.«

Mittlerweile haben Helfer um Moatassam Senoussi ihre Hilfe eingestellt. Sie fürchten um ihre Sicherheit, denn die mit den libyschen Milizen arbeitenden Menschenhändler unter den Migranten drohen sie umzubringen. »Sie fürchten, dass wir von den Frauen, denen wir helfen, erfahren, wie sie von diesen Vermittlern ausgenutzt wurden«, vermutet Senoussi. »Sie wollen durch die Ablehnung der Hilfe eine Evakuierung nach Europa erpressen.«

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