- Politik
- NS-Verbrechen
Wo sich deutsche Grausamkeit austobte
Eine Ausstellung in Niedersachsen erinnert an das Leid sowjetischer Kriegsgefangener
An Massengräber, an Zigtausende von den Nazis Ermordete und die zu ihnen zählende Anne Frank, die durch ihr Tagebuch bekannt geworden ist, denkt man meist zuerst, wenn das rund 70 Kilometer nördlich von Hannover liegende Bergen-Belsen erwähnt wird. Ein Konzentrationslager hatte die NS-Diktatur an jenem kleinen Ort geschaffen - aber auch mehrere Lager für Kriegsgefangene, so auch für Angehörige der Roten Armee. Über ihr Schicksal und das ihrer Kameradinnen und Kameraden in einer Vielzahl von »Russenlagern« im NS-Staat informiert derzeit eine Ausstellung im Bergener Dokumentationszentrum am ehemaligen KZ.
Die als Wanderausstellung konzipierte Präsentation, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Juni im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst eröffnet hatte, will aufzeigen, was sie in ihrem Titel zusammenfasst: Dimensionen eines Verbrechens. Ein solches, in kaum vorstellbarer Unmenschlichkeit, wurde vielerorts verübt von Wehrmacht und SS, vom Wachpersonal in Lagern wie denen in Bergen-Belsen. Auch dort hatten es die sowjetischen Kriegsgefangenen besonders schwer, war den deutschen Aufseherinnen und Aufsehern doch die Verachtung für die »Bolschewisten« sowie der mit Angstbildern geschürte Hass auf die »slawischen Untermenschen« durch die Propagandamaschine des Hitlerregimes eingeimpft worden.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nahm Hitlers Wehrmacht etwa 5,7 Millionen Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee gefangen. Mehr als drei Millionen von ihnen verloren ihr Leben. Die sowjetischen Kriegsgefangenen sind eine der größten Opfergruppen deutscher Massenverbrechen. Dennoch werde bis heute kaum an sie erinnert, beklagen die Kuratoren der vom Karlshorster Museum, dem Deutschen Historischen Institut in Moskau und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge verantworteten Ausstellung.
Zahlreiche Informationen zum Schicksal der Gefangenen vermittelt die Ausstellung, auch mit historischen Fotos, eine Europakarte zeigt Lager- und Gedenkorte, erinnert mit erschreckenden Zahlen an die Todesopfer dort. Für Kriegsgefangene aus den überfallenen Ländern hatte das Naziregime rund 1000 Lager geschaffen, drei davon in Bergen-Belsen, wohin schon bis Anfang November 1941 rund 21 000 sowjetische Kriegsgefangene verschleppt worden waren.
Die Missachtung und Grausamkeit gegenüber diesen Menschen zeigte sich auch darin, dass der Bau fester Unterkünfte vernachlässigt wurde. Die Gefangenen wurden den Unbilden der Witterung ausgesetzt. In ihrer Not verkrochen sie sich in selbst gebauten Erdhöhlen, Laubhütten und provisorischen Zelten. »Die vollkommen unzureichende Verpflegung trug zu Auszehrungen und Massenerkrankungen bei«, informiert die Bergener Gedenkstätte. Schon im Sommer 1941 habe die Ruhr im Lager grassiert, auch Fleckfieber und Tuberkulose brachen aus. Bis zum Frühjahr 1942 starben dort etwa 14 000 sowjetische Gefangene infolge der tödlichen Existenzbedingungen und durch Zwangsarbeit. Insgesamt 50 000 sowjetische Soldaten sollen bis zum Kriegsende in Bergen-Belsen umgekommen sein.
Fest steht: Im Januar 1945 waren auf dem Lagerfriedhof mehr als 19 500 sowjetische Kriegsgefangene begraben. Ein ihnen gewidmetes Mahnmal zeigt die vom ukrainischen Bildhauer Mykola Muchin-Koloda geschaffene Figur »Die Trauernde«. Vom selben Künstler stammt das Marmorbild eines trauernden sowjetischen Soldaten auf einem Ehrenfriedhof in Hannover. Dort ruhen 526 Opfer der Naziherrschaft, unter ihnen 154 sowjetische Soldaten, die in Niedersachsens Hauptstadt von Gestapo-Männern durch Genickschüsse ermordet worden waren. Ein Geschehen, das zeigt, wie grausam Nazischergen vielerorts mit Gefangenen aus der Sowjetunion verfuhren. An sie alle erinnert die Ausstellung, die noch bis Ende März 2022 in Bergen-Belsen zu sehen ist.
Ausstellung »Dimensionen eines Verbrechens«, bis zum 27. März 2022 in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Anne-Frank-Platz, 29303 Lohheide. Mehr Informationen: bergen-belsen.stiftung-ng.de
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.