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Auf der Suche nach der zweiten Welt
Menschen, Quallen, Pilze kommt zusammen: »Neues Landschaftstheater« in Berlin und ein »Katastrophenheft« von Maro
Schöne Grüße nach Glasgow zur Weltklimakonferenz, die Umwelt ist hinüber. Man kann es nicht oft genug sagen: Katastrophen und Kapitalismus gehören zusammen. In der Reihe »Maro-Hefte« ist nun »ein katastrophales Heft« erschienen, das auf 32 Seiten noch einmal darlegt, »Wie die Welt den Bach runtergeht und dabei das Meer überläuft« (Untertitel).
Wie war das noch mal? Seit 1979 ist die arktische Meereisfläche fast auf die Hälfte zusammen geschmolzen. Seit 1970 ist der Bestand an Wirbeltieren um 68 Prozent zurückgegangen. In derselben Zeit sind Urwälder von der eineinhalbfachen Größe der EU verschwunden. Es gab 466 Ölkatastrophen mit Öltankern. Klar, es gibt ja auch ständig mehr Autos: 1970 waren in der Bundesrepublik 14 Millionen Pkw zugelassen, 50 Jahre später sind es 48 Millionen.
Interessant ist der Gesundheitskosten-Diskurs, eine geradezu panische Angelegenheit, geschürt von einer Wirtschaft, die stets vor einer »Kostenexplosion« warnt. Deshalb soll da sowohl gespart als auch Gewinn gemacht werden. Seit 1991 ist die Zahl der Krankenhäuser um 20 Prozent gesunken, während sich der Anteil privater Krankenhäuser fast verdoppelt hat. Dabei beläuft sich der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt seit fünfzig Jahren konstant auf 10 bis 12 Prozent. Und in der Pandemie laufen die Pflegekräfte davon, weil sie keine Kraft und keine mehr Lust haben - und auch zu wenig Geld.
Wenn die Grüne Partei behauptet, man könnte Ökonomie und Ökologie versöhnen, indem man daraus ebenfalls ein Geschäft macht, ist das ein Scherz mit Ansage. Mal schauen, ob die FDP das noch toppen kann. Und sonst so? Vor langer Zeit sang die Gruppe Extrabreit: »Begreif doch, in den Metropolen / ist für dich nichts mehr zu holen, / dort wirst du maßlos unterschätzt, / komm, komm jetzt!« Damals sollte die Reise aus Hamburg oder Berlin in die Kleinstadt Hagen gehen, um dort berühmt zu werden. Aber richtige Provinz ist da, wo Ruhe ist. Denn die Metropolen saugen alles ab: Energie, Arbeit, Fläche und Gesundheit.
Die gestörten Beziehungen zwischen Stadt und Land sind das Thema der Stunde. Und auch von »Stadtflussland Berlin« einem Performancestück des Kollektivs Recherchepraxis, das von Freitag bis Sonntag in der Hauptstadt aufgeführt wurde - und zwar am Wasser, an der Spree.
Da kam in die Berliner Innenstadt, an den Stellen, wo sonst Touristen auf Ausflugsboote steigen, ein Schiffchen angefahren, das aussah wie ein schwimmendes Gewächshaus. Es wurde von einem Chor empfangen: Dem Chor der Statistik, entstanden aus dem besetzten »Haus der Statistik« in Berlin-Mitte, zirka 30 Leute unter der Leitung von Bernadette La Hengst an der Gitarre. Das konnte man sich am Haus der Kulturen der Welt, an der Karl Liebknecht Brücke gegenüber vom Dom und am Mercedes Platz ansehen.
Auf dem Schiffchen, angetrieben von einem Elektromotor, gebaut von spree:public, den Freigeistern aus der Rummelsburger Bucht, stand der Schauspieler Heiner Bomhard auf einer Leiter. Er verkündete, er sei über die Spree aus der Lausitz gekommen, die für die Metropolen weggebaggert werde - Tagebau, Sie wissen schon. 130 Dörfer mussten dran glauben - von insgesamt 200 Dörfern, die seit 1970 für die Braunkohle zerstört wurden, wie man im »Katastrophenheft« lesen kann. Im Ergebnis gibt es leere Mondlandschaften und zu wenig Wasser: Im Sommer fließt die Spree sogar rückwärts.
»Ausgemergelt und geschunden / alles Leben ist verschwunden, / abgebrannt und verkohlt, / alles aus dir rausgeholt. / Wann bäumst du dich endlich auf? Schmeiss die Schaufelbagger raus, / wirf die Plagegeister ab / ich verlasse meine Stadt!« antwortete der Chor - wie in einem Gospellied, Call and Response.
Die Protestlieder, die La Hengst singt und schreibt, funktionieren wie Hits, weil sie gemacht sind wie Liebeslieder. Die gehen einen direkt an. Auch dieses Lied für die Lausitz, »Łužyca« auf sorbisch, deren »visionäre Leere« besungen wird. Denn die Pointe von »Stadtflussland Berlin« ist der Aufruf, die Stadt zu verlassen und die leere Landschaft anders zu verhandeln bzw. der Dauerausbeutung der Natur etwas entgegen zu setzen.
Begreift man die Stadt als einen gefräßigen Organismus, dann muss man aufpassen, dass die Tiere, Pflanzen und überhaupt die Mikroorganismen darin nicht verschwinden. Denn es ist ja so: Natur ist nur noch Postnatur. »Landschaften ohne menschlichen Einfluss, ohne zivilisatorische Einwirkungen existieren nur noch als Projektionen«, wie es im »Manifest für das neue Große Landschaftstheater« steht, das bei »Stadtflussland Berlin« abschließend verteilt wurde.
Darin wird gefordert, dass die »vernutzten Landschaften neu bespielt« werden sollen. Weit draußen, vor den Toren der Städte. Und zwar mit den Pilzen, den Quallen, den Bakterien und dem ganzen anderen Zeug. Die berühmten kleinen Sachen, auf die es ankommt, mal ganz wörtlich genommen. »Quallen sind unsere Held*innen?« fragt erstaunt der Chor. Dabei hatte er vorher schon gesungen: »Hier geht es immer nur um Geld, / ich träum von einer zweiten Welt«. Das Problem an der Grünen Partei war ja, dass sie behauptet hatte, es gebe niemals eine zweite Welt, nirgendwo, nicht mal utopisch in den Köpfen und schon gar nicht im Kofferraum.
Maro Heft Nr. 6: »Talking ’bout your Generation. Wie die Welt den Bach runtergeht und das Meer überlauft. Ein katastrophales Heft«, mit Illustrationen von Riikka Laakso, 32 S., 16 €.
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