Die Poesie als dritte Sprache

Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden? Eine Tagung in Halle beschäftigte sich mit dieser Frage

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Innu, eine der First Nations Nordamerikas, legen einen Stein auf die Stelle, an der sie ein von ihnen gejagtes Tier zerteilt haben. Die Markierung soll die Anwesenheit der Jäger bezeugen, auf den Platz des Tieres rückt das Zeugnis derjenigen, die das geopferte Leben annehmen, um gestärkt weiterzuziehen. In Halle, Tausende Kilometer von der Tundra entfernt, rückt Jennifer Dummer einen Stein unter die Kamera, über ihr erscheint er auf dem Beamerbild. Es handele sich nur um einen symbolischen Stein, sagt sie rasch, nicht wirklich um einen, der in dieser traditionellen Weise zum Einsatz kam. Und doch mag man annehmen, dass Steine generell für sie und ihren Kollegen Andreas Jandl eine neue Bedeutung erfuhren, als sie einen Band der Innu-Dichterin Joséphine Bacon aus dem Französischen übersetzten.

Die beiden zeigen weitere Materialien: ein paar Beeren, eine Trommel, die Packung einer bei den Innu sehr beliebten Teesorte. All diese Fundstücke spielen in Bacons Dichtung wichtige Rollen, die Autorin hat sich der Erhaltung ihrer Kultur verschrieben. Ihre Lyrik zu übersetzen, so darf man Dummer und Jandl verstehen, bedeutet auch Ethnologie zu betreiben oder diese zumindest zu studieren, erfordert die Zeichensysteme des Französischen und Deutschen nicht nur zu beherrschen, sondern auch sie zu verlassen. Ihre Expeditionen ins noch Unbekannte dürften als eine Metapher für das Übersetzen von Lyrik schlechthin gelten, dem Thema einer Tagung, die am Wochenende am Literaturhaus Halle stattfand, veranstaltet vom »Netzwerk Lyrik«, einem Branchenverband, der sich seit 2017 für den Stand der Lyrik einsetzt.

Von Freitag bis Sonntag kamen Übersetzer, Literaturwissenschaftler und Dichter zusammen, um ihre Arbeiten zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen, wobei nur selten tatsächliche Debatten entstanden, die konzeptionell und ästhetisch sehr unterschiedlichen Herangehensweisen an das Übersetzen von Lyrik eher in respektvoller Parallelität zueinander verblieben. Und das obwohl vieles im Ansatz unvereinbar erscheint. Hier die dem Original verpflichtete, recherchierende Arbeit professioneller Übersetzer, dort die viel freiere Neudichtung. Der Lyriker Norbert Hummelt berichtet, wie er Texte der georgischen Kollegin Bela Chekurishvili ins Deutsche überträgt, ohne - wie er freimütig erklärt - Georgisch sprechen oder auch nur lesen zu können. Als Grundlage für seine Arbeit nutzt er Interlinearübersetzungen, die für jedes Wort Entsprechungen vorschlagen, freilich ohne diese in Beziehung zum vorherigen oder nachfolgenden zu setzen. Diese Praxis ist in der Lyrik nicht ungewöhnlich. Während man in der Prosa davon ausgeht, dass die profunde Kenntnis der Sprache und Kultur die maßgebliche Qualifikation für die Tätigkeit als Übersetzer darstellt, geht es bei der von Lyrik nicht weniger um dichterische Kompetenz. Die Poesie selbst erscheint so als dritte Sprache, die dem übersetzenden Lyriker auch das verständlich macht, was er im Zweifel nicht mal entziffern kann.

Freilich ist unstrittig, dass Gedichte viel weniger in ihrer Informationsvermittlung aufgehen als erzählende oder argumentierende Texte. Ihr Sinn erschließt sich vielmehr über die Sinnlichkeit des Lektüre-Erlebnisses selbst. Aber ist diese nicht sehr stark an den dichtenden Übersetzer als Person gebunden? Läuft eine solche Übertragung nicht Gefahr, sich stärker dem individuellen Eindruck zu verpflichten, als dem, was sich Lesern des Originalgedichts bei der Lektüre aufdrängt? Ein Extrembeispiel für erstere Position lieferte der Germanist Gabriel H. Decuble in seiner Generalkritik an der Celan-Übersetzung der rumänischen Dichterin Nora Iuga, die ihre Leistung gegen akademische Widerstände, mit dem Argument einer innigen Verbundenheit mit Celan verteidigt, in Interviews gar darüber spekuliert, ob sie ein Paar geworden wären, hätten sie das Glück gehabt, einander zu begegnen.

Das Kuratorenduo Aurélie Maurin und Ernest Wichner hat die Tagung aus gutem Grund mit einer Frage überschrieben: »Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden?« Die Antwort dürfte sehr unterschiedlich ausfallen. Oft ist von Spannungsverhältnissen die Rede, etwa auch bei der Frage, inwieweit ein Text vom Übersetzer für sich betrachtet werden soll, der Autor im Sinne des Diktums Roland Barthes als tot angenommen werden darf. Exemplarisch führten Decuble, der niederländische Übersetzer Ton Naaijkens und der Lyriker Alexandru Bulucz diese Debatte am Beispiel Paul Celans, dessen Werk so gut erschlossen ist, dass sein Vokabular bis auf Celans Zeitungslektüre hin zurückgeführt werden kann. Muss ein Übersetzer hier nachforschen, soll er biografische Erkundungen übernehmen oder darf ein Text als isoliertes Fundstück gelesen und aus diesem Verständnis heraus in die andere Sprache übertragen werden? Das Podium legt sich nicht eindeutig fest, macht aber deutlich, dass jede Antwort, auf eine »Haltung« rückführbar ist - ein Wort, das Theresia Prammer ins Zentrum ihrer Eröffnungsrede stellte.

Dass derlei Haltungen durchaus Anlass zu hart geführten Debatten geben, erweist sich leider erst in der letzten Diskussionsrunde, die viele ästhetische und handwerkliche Überlegungen der Tagung ins Politische überführt. »Sensitivity Translating« lautet das Thema, nicht überraschend ein unübersetzter Begriff. Es geht um die maßgeblich von US-Universitäten exportierten Debatten um Identitätspolitik und kulturelle Aneignung, denen Lektorin Katharina Raabe in der Diskussion eine scharfe Absage erteilt. Identität solle nicht als Kriterium für die Befähigung eines Übersetzers gelten. Wichtig sei stattdessen vor allem die literarische Bildung. Der Blutdruck steigt hier erstmals auf dem Podium, was ein wenig bedauerlich ist. Es muss erst das Reizwort Identitätspolitik fallen, um literarisch disparate Ansichten auch als Positionen zu verstehen, für die man leidenschaftlich eintritt. Etwas mehr Streit hätte auch anderen Debatten dieser, wenngleich aufschlussreichen, Tagung gut getan.

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