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Von Stalinburg und Little Berlin
Anfang November wird des Falls des Eisernen Vorhangs 1989 gedacht. In Tannbachgrund erinnert das Deutsch-Deutsche Museum Mödlareuth an die Teilung eines Dorfes, das vier Jahrzehnte lang zugleich im Osten und im Westen lag
Auf der Wiese ist der schmale Wasserlauf kaum zu erkennen. Erst kurz vor der kleinen Brücke mit den merkwürdigen Gitterschleusen nimmt man ihn wahr. Irgendwo bei Gefell-Gebersreuth im thüringischen Saale-Orla-Kreis entspringt das oft weniger als einen Meter breite Rinnsal und schlängelt sich sechs Kilometer durch den malerischsten, den waldig-hügeligen Teil des Vogtlands. Nahe der Stadt Hirschbach schließlich fließt er in die Saale.
Benannt hat man das Bächlein nach den Tannen, welche die Region für lange Zeiten prägten. Heute säumen es vor allem Gras und Laubgehölze. Die Buchen, die in Mödlareuth am Tannbach stehen, wachsen zwar im selben 48-Seelen-Dörfchen, doch Laub und Früchte werfen sie in zwei verschiedenen Ländern ab. Denn die eine Uferseite gehört zu Thüringen, die andere zu Bayern.
Robert Lebegern macht einen Schritt über den Tannbach und bleibt direkt darüber stehen - mit jedem Bein in einem anderen Bundesland. In beiden ist er seit Beginn der 1990er daheim. Der gebürtige Oberpfälzer, Jahrgang 1964, ist Leiter des Deutsch-Deutschen Museums Mödlareuth. Seine scheinbar simple Pose für das Foto versinnbildlicht, wovon in der zerschnittenen Gesellschaft viele träumten.
»Geteilt hat man den kleinen Ort, der mindestens seit 1289 existiert, schon 1810«, sagt der Historiker und Museologe. Damals habe man den Tannbach als Grenze zwischen dem Königreich Bayern und dem Fürstentum Reuß bestimmt. Grenzstreitigkeiten wie etwa zwischen dem Markgraftum Bayreuth und der Grafschaft Reuß-Schleiz waren bereits seit dem 16. Jahrhundert bekannt.
Die unterschiedliche Landeszugehörigkeit hielt Mödlareuths Bewohner nicht davon ab zusammenzuleben. »Zur Kirche ging man gemeinsam ins benachbarte bayerische Töpen. Gelernt und gefeiert wurde auf der thüringischen Seite. Dort befanden sich die Schule (heute Gasthaus «Zum Grenzgänger») und das Wirtshaus«, erzählt Robert Lebegern.
Bis zum Zweiten Weltkrieg, in den - wie schon im Ersten - Männer aus dem ganzen Dorf zusammen kämpften, war von der formellen Trennung de facto nichts zu spüren. Mit der Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen durch die alliierten Siegermächte begann das dunkelste Kapitel in Mödlareuths Geschichte und zugleich eines der bizarrsten Ortsschicksale in der Ära des Kalten Krieges.
Zum Kriegsende 1945 kamen für kurze Zeit die Amerikaner und besetzten das Dorf. Ihnen folgten die Sowjets, die im bayerischen Teil des Dorfes ihre Ortskommandantur errichteten - wegen des roten Sterns im Volksmund »Stalinburg« genannt. Ab 1946 verlief die Demarkationslinie wieder durch den Tannbach.
Die Grenze zwischen Thüringen und Bayern wurde zur Trennlinie zwischen sowjetischer und US-amerikanischer Besatzungszone, mit der Gründung von BRD und DDR 1949 zur Staatsgrenze. Im Zuge seiner schrittweisen Befestigung wurde die Sperrzone im Tannbachgrund schließlich zu einem unüberwindbaren Teil des 1393 Kilometer langen innerdeutschen Eisernen Vorhangs. Zwei Weltsysteme trafen sich an einem Dorfbach.
Zuerst gab es nur den Bach als Sperrmarkierung, ab 1952 einen Zaun - zunächst aus Brettern, dann aus Stacheldraht und Gittern. Während das Grenzgebiet auf der westdeutschen Seite frei zugänglich war und sich im Laufe der Jahrzehnte ein regelrechter Grenztourismus entwickelte, war der östliche Dorfteil komplett abgeriegelt.
Nachdem während der Aktion »Ungeziefer« 1952 alle unliebsamen Bewohner umgesiedelt worden waren, wurden alle verbliebenen aufs Schärfste überwacht und kontrolliert. Außer ihnen hatten nur engste Verwandte per Passierschein Zutritt. Lange durfte man die eigene Wohnung auch nur bei Tageslicht verlassen. Mit kaum überwindbaren Bollwerken machten die SED-Granden die DDR zum Gefängnis für ihre eigenen Bürger. »1966 schließlich wurde eine 700 Meter lange, 3,40 Meter hohe Mauer gebaut«, berichtet Robert Lebegern. Als noch ein Wachturm hinzukam, hatte Mödlareuth bei den Amerikanern (die dieses Wort sowieso nicht aussprechen konnten) seinen Spitznamen weg: »Little Berlin«.
Ein knapp 100 Meter langes Mauerstück zählt heute zu den Hauptobjekten des Museums - ebenso wie drei Wachtürme, Beobachtungsbunker und Straßensperren. Neben Originalschauplätzen im Dorf vermitteln eine ständige Ausstellung im ehemaligen Rittergut, darunter eine Halle mit historischen Militär- und Polizeifahrzeugen, sowie Kinosaal und Bibliothek Einblicke in den Alltag des geteilten Dorfes.
Besonders eindrucksvoll sind die historischen Filmaufnahmen und Fotos. Auf einem von 1948 sieht man Leute, die sich über den Tannbachs hinweg unterhalten. »Am Anfang war die Grenze wie überall zwischen den Besatzungszonen noch passierbar«, erinnert Robert Lebegern. Viele Menschen aus dem Osten nutzten diese Chance zum Wechsel in den Westen - einige noch im allerletzten Moment so wie Arno Wurziger, der sich mit seiner Familie unmittelbar vor der Abriegelung von der Oberen Mühle im Thüringischen auf die oberfränkische Seite des Tannbachs rettete.
Sehen und hören konnten sich die Menschen immer noch, nachdem die DDR 1952 dichtgemacht hatte. Im Westen drängten sich an manchen Tagen die Touristen. In manchen Jahren kamen bis zu 30 000. Im Osten stand es unter Strafe, nach Vis-à-vis zu grüßen oder zu winken. Zu jeder Zeit. Nur ganz Wenigen gelang danach die Flucht, 1973 sogar einem über die Betonmauer. Er stieg auf seinen Lieferwagen Barkas B 1000 und kletterte auf einer mitgebrachten Leiter bis nach oben, sprang und landete unverletzt auf der bayerischen Seite.
Als mit dem Fall der Mauer 1989 der böse, unsinnige Spuk ein Ende fand und sich die Mödlareuther auf den Trümmern ihrer letzten 40 Jahre Dorfgeschichte die Hände reichten, beschlossen sie, einen Teil der verhassten Grenzanlage zu erhalten. Zum Gedenken und als »begehbares Geschichtsbuch« für nachfolgende Generationen.
Neben dem hohen leeren Wachturm weiden schnatternd Gänse. Vom Kuhstall her riecht es nach Sauerfutter. Das Museum öffnet. Besucher schlendern durch die Freianlage. Schulklassen und Vogtlandurlauber. Ältere, die sich erinnern. Jüngere wie der 26-jährige Stephan Soellner, der schon im wiedervereinten Deutschland geboren wurde und dem es wie vielen seiner Altersgenossen schwerfällt zu begreifen, was hier passierte.
Ein Traktor fährt die Straße entlang, von hüben nach drüben und zurück. Einfach so. Dem, der die Geschichte kennt, erscheint das gar nicht so normal.
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