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An den Rand gerückt
Die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich agiert nach drei Jahren nur noch bescheiden
Männer und Frauen in gelben Westen, die Transparente schwenken, Flugblätter verteilen oder sich an einem Lagerfeuer aufwärmen, sieht man heutzutage nur noch gelegentlich an Kreisverkehrs-Rondellen am Rande der Städte. Ihre Bewegung, die Frankreich monatelang in Atem halten sollte, war spontan vor drei Jahren Mitte November entstanden und brachte dann Sonnabend für Sonnabend landesweit mehrere Hunderttausend Menschen auf die Straße. Ihre Proteste richteten sich vor allem gegen die steigenden Lebenshaltungskosten bei stagnierenden Löhnen. Konkreter Anlass war eine Benzinpreiserhöhung, die sich durch eine neue Umweltsteuer auf Treibstoff und andere Energieträger ergeben hatte und damit der Regierung angelastet wurde.
Bei den Demonstranten handelte es sich nicht um die Ärmsten der Armen, sondern um die unteren Mittelschichten, die zu wenig verdienen, um davon korrekt leben zu können, aber doch zu viel, um Anspruch auf Wohngeld, den Energiescheck der Regierung oder andere soziale Hilfsleistungen zu haben. Die Protestaktionen setzten sich über das ganze Jahr 2019 fort, wobei die Zahl der Demonstranten langsam, aber stetig abnahm. Ihr Ende wurde definitiv im März 2020 durch den ersten Corona-Lockdown besiegelt. Doch über Monate hat diese sozial und politisch bunt zusammengewürfelte Bewegung, die weder eine organisatorische Struktur noch repräsentative Sprecher oder gar ein Programm hatte, den Präsidenten und die Regierung gezwungen, auf die Klagen und die Forderungen von »unten« zu reagieren.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Die Regierung lud zu einem »Sozialgipfel« ein, zu dem die Gewerkschaften erschienen, aber niemand von den Gelbwesten, und sie versuchte, durch soziale und steuerrechtliche Sofortmaßnahmen der Protestbewegung Wind aus den Segeln zu nehmen. Präsident Emmanuel Macron reiste in die Regionen und beriet dort mit Bürgermeistern und anderen Kommunalpolitikern über die Lage vor Ort, über akute Probleme und Wege zu ihrer Lösung. Unterdessen liefen die Sonnabend-Demonstrationen mehr und mehr aus dem Ruder, weil gewaltbereite Kräfte unter den Gelbwesten die Oberhand gewannen und die Bewegung auch durch Schlägertrupps unterwandert wurde. Das kostete viel Sympathie in der Bevölkerung und führte zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei, die oft brutale Gewalt einsetzte. Einige Gelbwesten verloren dabei durch Polizeigranaten ein Auge, eine Hand oder wurden in anderer Weise verletzt. Das wiederum löste eine breite Debatte in der Öffentlichkeit über Polizeigewalt aus.
Politisch gewann das rechtsextreme Rassemblement National RN von Marine Le Pen an Einfluss und versuchte, die Bewegung gegen Präsident Macron und seine Regierung zu instrumentalisieren. Dagegen ließen die Gelbwesten Politiker linker Parteien oder selbst Gewerkschafter meist abblitzen.
Die Gelbwesten, die heute die Bewegung am Leben zu erhalten oder neu anzufachen versuchen, sind mehrheitlich davon überzeugt, dass sich in den vergangenen drei Jahren fast nichts positiv verändert hat. Um das zu belegen, verweisen sie auf die in letzter Zeit wieder stark gestiegenen Preise für Treibstoff, Strom und Gas.
Der Eindruck, dass sich die Lebenslage in den vergangenen Jahren verschlechtert hat, steht jedoch im Widerspruch zu den Statistiken. Danach hat sich die Kaufkraft der Haushalte zwischen 2017 und 2021 im Schnitt um 1,6 Prozent erhöht, allerdings mit einem Gefälle zwischen den Besserverdienenden mit plus 2,8 Prozent und den Einkommensschwächsten mit minus 0,5 Prozent. Dass die Regierung die jüngsten Energiepreiserhöhungen per Gesetz begrenzt und über längere Zeit gestreckt hat, um Härten zu vermeiden, wird von den Gelbwesten abqualifiziert als »Versuch, sozialen Frieden zu erkaufen«.
Zu den anfänglichen Forderungen der Bewegung der Gelben Westen nach Kaufkraftverbesserungen und nach Volksabstimmungen oder anderen Formen direkter Demokratie sind in den Monaten der Coronakrise neue Themen hinzugekommen. Das reicht von der Ablehnung der jüngsten Gesetze für mehr Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus bis zum Nein zur Corona-Impfpflicht für Mitarbeiter des Gesundheitswesens und der Impfpasspflicht für alle Bürger an stark frequentierten Orten und in geschlossenen Räumen. Das wird von Hardlinern unter den Gelbwesten als »autoritär« gebrandmarkt, sie greifen dabei fragwürdige Verschwörungstheorien auf und gehen bis zur pauschalen Ablehnung des »Systems«. Das verprellt allerdings viele, die vor drei Jahren die gelbe Weste angezogen haben und für die Verbesserungen ihre Lebenslage auf die Straße gegangen sind, die sich jetzt aber nicht von Scharfmachern instrumentalisieren lassen wollen.
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