Urban, grün, sozial

Die Arbeitswelt in Berlin muss sich verändern, auch um die Pandemiefolgen aufzufangen

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 6 Min.

Fair, gerecht, digital und «grün» im Sinne von nachhaltig: Kann und wird sich die Berliner Arbeitswelt langfristig in diese Richtung entwickeln - nicht zuletzt, um die schwerwiegenden Auswirkungen der Coronakrise aufzufangen?

Die Aufgabe ist angesichts der Pandemie noch einmal immens gewachsen: War der Niedriglohnsektor mit seinen an Ausbeutung grenzenden Lohn- und Arbeitsbedingungen schon vorher größer als in anderen Bundesländern, kommt die derzeit um ein Viertel höhere Arbeitslosenquote in der Hauptstadt dazu. Betroffen sind - keineswegs überraschend - viele Jobs in ebenjenem Niedriglohnsektor. Auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen, also jene, die ein Jahr und länger arbeitslos sind, liegt im Herbst 2021 in Berlin um 40 Prozent höher als andernorts.

Die soziale Ungleichheit verstärkt sich: Während nicht wenige Unternehmen von der Pandemie profitieren konnten, sind immer mehr Menschen von Armut bedroht, vor allem Familien und Kinder. So oder ähnlich sieht es auch in anderen europäischen Metropolen aus: Wohnungskrisen, Energiearmut, Jobverluste. Dazu kommt für diejenigen, die ihre Arbeit nicht verloren haben oder aufgeben mussten: Infektionsschutzmaßnahmen haben die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, tiefgreifend verändert.

Wie kann ein inklusiver Aufschwung entstehen, mit dem es zudem gelingt, langfristig Arbeitsplätze zu sichern? Die Frage beschäftigt nicht nur den Berliner Senat, sondern auch das dreitägige, virtuell abgehaltene Forum «Social Affairs» von Eurocities Anfang dieser Woche, dem größten europäischen Städtenetzwerks mit 190 Städten aus 39 Staaten. 200 Teilnehmende aus 22 Ländern waren in diesem Jahr dabei, um die Pandemie, ihre Folgen und Chancen vor dem Hintergrund zu diskutieren, was Städte an sozialer Infrastruktur vorzuweisen und auszubauen haben. Die Hauptstadt stand als Gastgeberin besonders im Fokus. Linke-Politiker Klaus Lederer, Noch-Bürgermeister und Kultursenator, sieht die Verbesserungen von Arbeitsbedingungen als enorm dringlich an. Zudem seien verletzliche - und große - Gruppen wie Kinder und junge Leute, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Migrationsgeschichte und Geflüchtete besonders in den Blick zu nehmen und zu schützen, so Lederer.

In Berlin gilt das Solidarische Grundeinkommen als Leuchtturm-Projekt und soziale Innovation. Mit dem 38-Millionen-Euro-Förderprogramm wollten der rot-rot-grüne Senat der letzten Legislatur und der Erfinder des Konzepts, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD), ab 2019 explizit Langzeitarbeitslose unterstützen, die aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten haben, eine Beschäftigung zu finden. Per 1000 extra geschaffenen Stellen - fair bezahlt, unbefristet und sozialversicherungspflichtig - mit in weiten Teilen sozial ausgerichteten Aufgabenbereichen sollte eine Alternative zu den vielfach kritisierten «Maßnahmen» des Hartz-IV-Systems aufgezeigt werden. Für das Modell müssen verschiedene Bereiche ineinander greifen, von denen auch sonst Kooperation erwartet wird. Betriebe, die Jobcenter der Arbeitsagentur und die öffentliche Hand. Dadurch, dass auf dem Arbeitsmarkt Benachteiligte neue Aufgaben erhalten und Unternehmen Jobs mit sozialen Schwerpunkten anbieten können, entstehen Arbeitsplätze und ein unmittelbares Gegengewicht in einer immer stärker als sozial gespalten wahrgenommenen Gesellschaft.

Auch wenn im Lauf des Modellprojekts Betriebe immer wieder bürokratische Hindernisse beklagten: Teilnehmer des Programms zeigen sich begeistert von ihrer Tätigkeit. So auch Rainer Fabiano Fagundes, der vor neun Jahren nach Berlin gezogen war, aber seine Tätigkeit als ausgebildeter Gastronom nicht mit seinem Familienleben in Übereinstimmung bringen konnte. Nach einem missglückten Vorstellungsgespräch sei er einem Begleiter des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB) begegnet und habe sich sofort für die Tätigkeit interessiert, berichtet er. Der VBB-Begleitservice richtet sich an Menschen, die sich aufgrund von Mobilitätseinschränkungen bei der Nutzung von Bus und Bahn unsicher fühlen, die einen Rollstuhl, Rollator oder eine Gehhilfe nutzen, blind oder gehörlos seien oder auch stark verunsichert. Fagundes bewarb sich über das Programm Solidarisches Grundeinkommen auf diese Tätigkeit und ist nun jeden Tag in der Hauptstadt unterwegs. Und zufrieden: «Jeder Kunde ist wie eine Welt, und wir lernen voneinander», erklärt der geborene Brasilianer seine neue Beschäftigung.

Eine seiner Kund*innen, eine blinde Berlinerin, berichtet, wie sehr ihr seine Hilfe das Gefühl vermittele, «am Leben teilhaben zu können und freundlich und gut behandelt zu werden». Aber 1000 Stellen sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Wie viele können folgen, wird Berlin zur klimafreundlichen Metropole umgestaltet, so wie es die künftige Mitte-links-Regierung plant? Allein 100 Millionen Euro nimmt zum Beispiel die Mercedes Benz AG in die Hand, um im traditionsreichen Berliner Daimler-Werk in Marienfelde die Umstellung auf Elektromotoren zu vollziehen - für einen Produktionsstandort. Klar ist: Städte allein können den Wandel nicht stemmen, wenn man sich allein die Masse an Industriearbeitsplätzen vorstellt, die einer klimafreundlichen Transformation harren.

Auch der stellvertretende Bürgermeister des niederländischen Utrecht, Maarten van Ooijen, fordert mehr Autonomie und finanzielle Unterstützung für progressive Programme in Großstädten. Dann könne der Umbau hin zu einer sozialen, inklusiven und klimafreundlichen Infrastruktur gelingen. Van Ooijen, Politiker der Partei Christen Unie, kritisiert die Schwerfälligkeit der Nationalstaaten bei diesem Vorhaben. Das könne man auch am Beispiel des Pariser Klimaabkommens der EU sehen, das den Ausstieg der Niederlande aus der fossilen Energiewirtschaft mit 1,5 Milliarden Euro im Jahr fördert. «Die holländischen Städte, in denen sich Klimawandel maßgeblich vollziehen muss, kriegen davon insgesamt 27 Millionen Euro - das reicht offensichtlich nicht, moniert van Ooijen.

Er erklärt auch, wie man in der holländischen Großstadt versucht, das Thema einer inklusiveren Gesellschaft auszubuchstabieren. So werde zum Beispiel für Asylsuchende in Utrecht seitens der Stadt Teilhabe durch die Vorhaltung von Wohnraum sichergestellt. »Wir bieten Migrant*innen und Obdachlosen mehr Zugang an - Menschen, denen der Staat nie Beachtung schenken wird«, so van Ooijen.

Auch in Berlin ist die mietenpolitische Frage zur sozialen Frage geworden, anders lässt sich die Abstimmung zum Volksentscheid über eine Vergesellschaftung großer, profitorientierter Wohnungskonzerne nicht interpretieren. Und auch hier ist die zukünftige Landesregierung aufgefordert, feste Quoten bei Wohnraumvergabe und Wohnungsbauvorhaben einzusetzen, um die grassierende Wohnungslosigkeit zu beenden. Über die finanziellen Möglichkeiten wird der Koalitionsvertrag der zukünftigen Landesregierung in der kommenden Woche Auskunft geben.

Katarina Ivanković-Knežević, bei der Europäischen Kommission Leiterin der Abteilung für soziale Inklusion, pflichtet van Ooijen bei. Städte spielten eine Schlüsselrolle bei der Frage, wie zukünftig Arbeitsplätze, Klimawandel und soziale Infrastruktur gestaltet werden können. Man brauche »größere Schritte« und »direktere Verbindungen«. »Die Städte müssen investieren, um diese Rolle auch verstärken zu können«, so die EU-Vertreterin. Sie verweist zugleich auf die entsprechenden Möglichkeiten, mit denen auch im Fall des Landes Berlin das Hindernis Bundesregierung umgangen werden kann.

Es bleibt abzuwarten, wie schnell diese neuen Wege und finanziellen Mittel in Gebrauch genommen werden. Fest steht: Auch Berlin muss jene Bevölkerungsgruppen stärker sozial einbeziehen, die in der herrschenden Verwertungslogik nicht vorkommen, aber die Stadtbevölkerung mehr prägen, als viele Politiker*innen es wahrnehmen - oder wahrnehmen wollen. Rücken ihre Bedarfe mehr in den Fokus, wird die Stadt sozialer und am Ende auch klimafreundlicher.

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