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Die Illusion der Gleichstellung

Ein Jahr vor der Fußball-WM in Katar sind Frauen dort immer noch häufig von der Gnade eines männlichen Vormunds abhängig. Das Herrscherhaus will diese Diskriminierung auch mithilfe des Sports überdecken

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor wenigen Tagen machte Katars Fußballnationalteam der Frauen international Schlagzeilen. Die Auswahl traf in einem Freundschaftsspiel auf die Auswahl Afghanistans. Der Austragungsort: das Khalifa-International-Stadion in Doha, eine der Spielstätten der Männer-Weltmeisterschaft, die in einem Jahr in Katar beginnen soll. In einer Pressemitteilung betonten Entscheidungsträger die Rolle des Emirats bei der »sicheren Evakuierung von mehr als 70 000 Menschen aus Afghanistan«, nachdem die Taliban dort im August die Macht übernommen hatten.

In der Mitteilung bezeichnete WM-Organisationschef Hassan Al Thawadi, die Unterkünfte der Evakuierten als einen »sicheren Raum«, um den »Jugendlichen und Familien ein Gefühl der Zugehörigkeit zu geben«. Zum Angebot zählen unter anderem: eine Kindertagesstätte, Kurse in Yoga, Pilates und Kunstworkshops. Die afghanischen Fußballerinnen konnten an einer Fortbildung für Trainerinnen teilnehmen. »Wir freuen uns sehr über diese Gelegenheit und hoffen, dass wir diese inspirierenden jungen Frauen weiterhin unterstützen können«, so Al Thawadi.

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Starke und inspirierende Frauen. Dieses Narrativ sticht in der Öffentlichkeitsarbeit rund um die WM 2022 immer wieder heraus. »In westlichen Gesellschaften stellen sich viele Menschen die katarische Frau als unterdrückt und verhüllt vor«, sagt Anna Reuß, die an der Universität der Bundeswehr in München zur Außenpolitik in den Golfstaaten forscht. »Der katarische Staat will dieses Klischee umkehren und ein nuanciertes Bild von mündigen Frauen zeichnen. Fotos von schwitzenden Fußballerinnen mit Pferdeschwanz, die sich nach einem Tor in den Armen liegen, können dabei helfen.« Katar hat sich in vielen Projekten der Frauenförderung verschrieben. Die Frage ist nur: Zu welchem Zweck und wie ernsthaft sind diese Projekte?

In der konfliktreichen Region am Persischen Golf will das Land seine Wirtschaft diversifizieren, denn die Ressourcen Öl und Gas sind endlich. Im Wettstreit mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten ist das kleine Katar auf Netzwerke mit dem Westen angewiesen. Um diese Kontakte nicht zu gefährden, setzt das Emirat auf fortschrittliche Initiativen. Dabei verweist das Herrscherhaus auf weibliche Führungskräfte in Verwaltung, Wirtschaft und Kultur. Zudem seien fast 75 Prozent der Studierenden an Hochschulen inzwischen weiblich.

Unter den Studierenden mögen sie zwar die Mehrheit stellen, doch auf dem Arbeitsmarkt sieht es schon anders aus. 70 Prozent der katarischen Männer sind erwerbstätig, von den Frauen nur 37 Prozent. Auch der Gender Gap Index des Weltwirtschaftsforums von 2020 zeigt ein differenziertes Bild. Bei der Bildung von Frauen liegt Katar noch auf Platz 83 von 153 bewerteten Nationen. In ihrer ökonomischen Teilhabe ist Katar schon nur noch 132., in der weiblichen Gesundheitsfürsorge steht sogar Platz 142 zu Buche und auf der Ebene des politischen Empowerments Rang 143.

Daher seien die Bildungszahlen trügerisch, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Mashael Muftah in einem Blog der Georgetown-Universität in Doha: »Die Ausbildung katarischer Frauen ist zum Teil ein oberflächlicher Versuch des Staates, der für Soft-Power-Ziele genutzt wird.« Ihr Eindruck: Viele Absolventinnen der Uni fühlen sich vom Rest der Gesellschaft entfremdet. Sobald sie den liberalen Campus verlassen, stoßen sie wieder auf andere gesellschaftliche Normen.

Unter männlicher Kontrolle

Wie diese Normen durch den Staat begünstigt werden, legte Human Rights Watch vor Kurzem in einem Bericht dar. Die Menschenrechtsorganisation führte 73 Interviews und prüfte die Gesetzgebung. Demnach müssen katarische Frauen noch immer häufig die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen, zum Beispiel, wenn sie heiraten, in einem öffentlichen Job arbeiten, im Ausland studieren oder ihren Führerschein machen wollen. »Die männliche Vormundschaft stärkt die Macht und Kontrolle, die Männer über das Leben von Frauen haben«, sagt Rothna Begum von Human Rights Watch. »Sie kann Gewalt fördern und lässt Frauen nur wenige Möglichkeiten, dem Missbrauch durch ihre eigenen Familien und Ehemänner zu entkommen.« Etliche Frauen berichteten gegenüber der Organisation von Depressionen, Selbstverletzungen und Suizidgedanken. Betroffene, die derlei Themen in sozialen Netzwerken zur Sprache bringen, müssen offenbar mit Verhören und Cybermobbing rechnen. Unabhängige Frauenrechtsorganisationen gibt es in Katar nicht.

Der Sport verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen dem offiziellen politischen Anspruch, modern zu wirken, und den konservativen gesellschaftlichen Normen im Land. Erst 1998 veranstaltete der nationale Leichtathletikverband erstmals einen größeren Wettkampf für Frauen. Zwei Jahre später brachte Musa bint Nasser al-Missned, Ehefrau des damaligen Emirs, die Gründung des Frauen-Sportkomitees auf den Weg. Zu jener Zeit öffnete sich Katar für internationale Investoren und bemühte sich um das Austragungsrecht großer Sportveranstaltungen.

Das Ziel war die Austragung der Fußball-WM - der Männer. Doch die Fifa verlangt von den Bewerbern Nachweise für die Förderung von Mädchen und Frauen. Am 18. Oktober 2010 bestritt also die neu gegründete katarische Frauenauswahl ihr erstes Länderspiel gegen Bahrain. Anderthalb Monate später wurde die Männer-WM 2022 nach Katar vergeben. Das internationale Medieninteresse nahm zu - und auch der Reformdruck. Bei den Olympischen Spielen 2012 in London war Katar erstmals mit Frauen vertreten. Sportschützin Bahiya Al-Hamad trug sogar die Nationalflagge bei der Eröffnungsfeier.

Auch der Fußball wurde in diese vermeintliche Offensive integriert. Katars Spielerinnen bestritten kurz nach der Vergabe der WM 2022 noch einige Partien. Lange Zeit waren sie im Anschluss aber kaum aktiv und wurden nicht in der Weltrangliste der Fifa geführt. »Wir haben in Schulen nach Talenten Ausschau gehalten«, sagt die deutsche Trainerin Monika Staab, die Katars Nationalteam 2013 und 2014 aufgebaut hat. »Aber es fehlte eine langfristige Strategie und die Unterstützung von ganz oben.«

Hin und wieder gab es ein Spiel zur Repräsentation, zum Beispiel im Dezember 2020: Die katarischen Fußballerinnen empfingen den US-Klub Washington Spirit. Meshal bin Hamad Al Thani, Katars Botschafter in den USA, bezeichnete die Begegnung als wichtigen Auftakt für das US-katarische Kulturjahr: »Washington Spirit ist ein Beispiel für Mädchen in Katar und in den USA für das explosive Potenzial von starken Frauen.« Doch dieser rhetorische Vergleich hinkt massiv. Das ist schon daran zu erkennen, dass Katars Nationalteam und die 2012 gegründete Liga der Frauen nicht dem Fußballverband unterstellt sind, sondern dem Frauen-Sportkomitee - eine im internationalen Sport höchst ungewöhnliche Konstellation.

Fußballerinnen werden nicht akzeptiert

Offiziell wünschen sich Politiker erfolgreiche und vorzeigbare Sportlerinnen, sagt die österreichische Politikwissenschaftlerin und Soziologin Tina Sanders, die sich mit Frauenfußball im Nahen Osten beschäftigt. Doch das kulturelle Umfeld erschwere ihren Aufstieg. Einige Kleriker des Wahhabismus glauben weiterhin, dass Frauen durch Sport ihre Jungfräulichkeit verlieren könnten. Mehrfach wurden zudem Blogs und Twitter-Accounts von Feministinnen gesperrt.

Frauen bemühen sich derweil in Universitäten um »sichere Orte«, die ihnen das Fußballspielen ermöglichen - wegen der geringen Teilnahme wird allerdings meist auf die kleinere Hallenvariante Futsal ausgewichen. Der Fußball sei für Frauen in Katar kaum akzeptiert, sagt Reuß und begründet das mit dem gängigen Familienbild: »Auch wenn die Frau viel zum Einkommen beiträgt, wird sie nicht als Familienoberhaupt angesehen, sondern eher als Mutter.« Viele Männer - und auch viele Frauen - befürchten die Erosion dieser traditionellen Identitätsmuster und lehnen auch aus diesem Grund Frauen in lockerer Sportkleidung ab. »Fußballerinnen werden zudem häufig als maskulin wahrgenommen. Auch progressive Frauen bleiben dem Fußball daher oft fern«, so Reuß.

»Körperliche Bewegungen von Frauen haben in den Golfstaaten nicht den gleichen Stellenwert wie in westlichen Gesellschaften«, sagt Reuß. »Es gibt wenige Räume, in denen sich Frauen ohne traditionelle Bekleidung verausgaben können.« In Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten leiden Frauen daher häufiger an Übergewicht, Fettleibigkeit oder Diabetes. In Doha wächst immerhin die Zahl der Fitnessstudios, die ausschließlich für Frauen geöffnet sind; so will der Staat auch Kosten für das Gesundheitssystem senken.

Die Fußball-WM 2022 wird Möglichkeiten bieten, um kritisch und differenziert auf Frauenrechte in Katar zu blicken. »Die wenigen Frauenteams könnten sich mit Fans aus Europa vernetzen«, schlägt Politikwissenschaftlerin Tina Sanders vor. »Daraus könnten Solidaritätskampagnen entstehen. Auch offene Briefe zum Thema könnten das Bewusstsein stärken.« Seit Jahren nutzen Frauenrechtsgruppen aus Europa wie Right To Play oder Discover Football den Fußball zur Stärkung von Frauenrechten. Die Öffentlichkeit rund um die WM 2022 könnte auch für sie eine Chance sein, gehört zu werden.

Du willst mehr zur WM und der Menschenrechtslage in Katar erfahren? Unter dem Titel »Foulspiel mit System: Ein Jahr vor der WM in Katar.« veranstaltet die Rosa-Luxemburg-Stiftung am Mittwoch, 24. November (19 Uhr), im Berliner »SO36« eine Diskussionsveranstaltung mit Katja Müller-Fahlbusch (Amnesty International), Susanne Franke (Netzwerk Boycott Qatar 2022), Smritee Lama (Gewerkschafterin aus Nepal) und nd-Autor Ronny Blaschke. Mehr Informationen unter: www.rosalux.de/fairplay

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