»Wir müssen Fortschritte verteidigen«

Bei den Wahlen in Chile ist die Linke favorisiert. Der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Kast hat aber gute Chancen auf die zweite Runde

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.

»Die Hoffnung auf einen radikalen Wandel ist weg«, sagt die Basisaktivistin und Lehrerin Victoria Naranjo dem »nd«. Wenn an diesem Sonntag in Chile die Menschen zur Parlaments- und Präsidentschaftswahl gehen, wird auch sie ihr Kreuzchen machen, vermutlich für den Linksreformer Gabriel Boric. Doch nicht aus Überzeugung, sondern aus Angst. Denn auf der rechten Seite hat der chilenische Bolsonaro, José Antonio Kast, an Popularität gewonnen. »Ich habe Angst davor, dass eine Person wie Kast regiert, wir müssen die erreichten Fortschritte verteidigen«, sagt Naranjo.

Zwei Jahre nach Beginn der chilenischen Oktoberrevolte wählt die Bevölkerung eine neue Präsidentin oder einen neuen Präsidenten, einen neuen Kongress, die Hälfte der Senatsmitglieder und die Vertreter*innen der Regionalräte, eine Art regionales Parlament mit sehr beschränkter Macht.

Ultrarechter gegen Linksreformer

Der rechte Präsident Sebastián Piñera wird im März 2022 das Amt abgeben. Eine direkte Wiederwahl ist von der Verfassung ausgeschlossen. Er hat die vergangenen zwei Jahre seit Beginn der Proteste politisch überlebt, obwohl auf Demonstrationen sein Rücktritt gefordert wurde und obwohl die Opposition mehrmals versucht hat, in des Amts zu entheben. Ohne Immunität drohen ihm Gerichtsverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen und Korruption.

Zur Wahl stehen nun sieben Kandidat*innen. Als Favorit*innen gelten der ehemaligen Studierendenführer Gabriel Boric, die Christdemokratin Yasna Provoste, der Kandidat der rechten Regierungsparteien, Sebastián Sichel, und der rechtsradikale Politiker José Antonio Kast.

Sollte wie erwartet niemand in der ersten Runde mehr als 50 Prozent der Stimmen erreichen, treten am 19. Dezember die beiden Kandidat*innen mit den meisten Stimmen zu einer Stichwahl an. Umfragen zufolge dürften Kast und Boric die meisten Stimmen erhalten. Die Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Die Umfragen zu den vergangenen Wahlen waren stets zu rechtslastig und der Sieg der linken Kräfte bei den vergangenen Gemeindewahlen und bei der Abstimmung zum Verfassungskonvent in den Augen vieler Medien eine »Überraschung«.

Seit der Revolte stehen die Zeichen auf links. Forderungen wie mehr Sozialstaat, weniger Turbokapitalismus und Schutz der Umwelt sind sehr populär. Auch deswegen vertritt der offizielle Kandidat der Regierungsparteien, Sebastián Sichel, eine politische Linie der gemäßigten Rechten. Er bezeichnet die Militärdiktatur von 1973 bis 1990 als solche und will erkämpfte soziale Rechte von Frauen und LGBTQ-Menschen nicht rückgängig machen.

Gegen den Trend steht kein anderer so sehr wie der ultrarechte José Antonio Kast. Er vertritt diejenigen, die den politischen Wandel verhindern und mit purer Staatsgewalt »Ordnung« schaffen wollen. In seinem Parteiprogramm ist von einem »angeblichen Klimawandel« die Rede, er will wieder ein vollständiges Abtreibungsverbot einführen und linke Aktivist*innen auf lateinamerikanischer Ebene verfolgen. Nachdem er in Umfragewerten zugelegt hatte, wechselten rechte Politiker*innen medienwirksam in sein Wahlkomitee. Kast hat beste Beziehungen zur rechtsextremen Vox in Spanien und sympathisiert offen mit der AfD und dem rechtsextremen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonora.

Favorit ist indes Gabriel Boric. Das Wahlprogramm des derzeitigen Parlamentariers verspricht die Umsetzung vieler sozialer Forderungen der vergangenen Jahre, etwa die Einführung eines solidarischen, öffentlichen Rentensystems und einer universellen Krankenkasse sowie die Abschaltung aller Kohlekraftwerke innerhalb einer Regierungsperiode. Kritiker*innen monieren die hohen Kosten, die dabei entstehen würden, seien wirtschaftlich nicht tragbar.

Hoffen aufs Parlament

Innerhalb linksradikalerer Kreise wird Boric mit Skepsis gesehen. Die Basisaktivistin Naranjo kritisiert, Boric habe zu häufig seine politische Position gewechselt. Ihr Favorit war der Kommunist Daniel Jadue. Doch dieser hat in einer internen Vorwahl der Koalition »Apruebo Dignidad« - zu deutsch: ich stimme der Würde zu - gegen Boric verloren. Die damalige Wahlniederlage wurde mit der teils aggressiven Art Jadues und dem weiterhin in Chile herrschendem Antikommunismus erklärt.

Um Wähler*innen wie Naranjo trotzdem davon zu überzeugen, die Koalition zu unterstützen, rief Jadue in einem Interview dazu auf, linke Parlamentarier*innen zu wählen. Die KPCh werde dafür sorgen, dass das Regierungsprogramm auch umgesetzt wird.

Dazu braucht es ein linkes Parlament. Die Biologiestudentin Javiera Moreno setzt ihre Hoffnung auf dessen Zusammensetzung. »Endlich gibt es Leute aus unserer sozialen Schicht, die beschlossen haben den Weg ins Parlament zu gehen«, sagt sie bei einer Wahlveranstaltung von Fabiola Campillai, einer parteiunabhängigen Kandidatin für den Senat, in einem Arbeiter*innenviertel im Norden von Santiago. Die Angestellte eines Teigwarenproduzenten hat weltweite Bekanntheit erlangt, da ein Polizist im November 2019 eine Gasgranate in ihr Gesicht schoss. Sie war auf dem Weg zur Arbeit und verlor daraufhin ihr Augenlicht und den Geruchssinn. Sie ist ein Symbol im Kampf gegen die Menschenrechtsverletzungen unter Piñera.

Die Biologiestudentin Moreno wird etwas widerwillig den ehemaligen Studierendenführer wählen. Boric hat gute Chancen, der nächste Präsident zu werden. Er wird vermutlich gegen einen der beiden rechten Kandidaten in die Stichwahl gehen. Die Opposition wird eine extreme oder eine gemäßigte Rechte sein, die mehr oder weniger demokratisch versuchen wird, die Reformpläne der Regierung zu verhindern.

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