- Kultur
- Corona und das Bildungsbürgertum
Die Pandemie der Gebildeten
Jeja Nervt: Ignoranz und Überheblichkeit in Zeiten der Pandemie
Völlig überraschend explodieren in diesen Wochen die Coronazahlen. Auf einmal ist das Thema wieder in den Medien, ganz so, als wäre das Virus jemals fort gewesen. Gestern war der deutsche Bildungsbürger noch in der Hoffnung verfangen, der Sommer werde ewig dauern. Heute weiß er schon genau, auf wen er den Finger richten muss.
Die Ungeimpften seien schuld daran, konnte man in deutschen Medien lesen, dass es zu einer vierten Welle kommt. Doch es sind nicht der tausendfache Tod und die Leiden der qualvoll erstickenden Menschen, die den Bildungsbürger empören. Es ist die Einschränkung seiner persönlichen Freiheit. Darum schimpft er auf die, die nicht wie er ständig in der Zeitung nachlesen, wie man sich bestmöglich schützen kann, welcher Impfstoff der risikoärmste ist oder welches Mittel beim eigenen Impfprofil die meiste Power als Booster verspricht. Das Skifahren lässt er sich derweil trotzdem nicht nehmen.
Jeja Klein ist eine dieser Gender-Personen aus dem Internet und nörgelt einmal die Woche an Kultur und Politik herum. dasnd.de/jejanervt
Das ist beeindruckend: Hätte es doch gerade diese Bildung ermöglicht, schon vor Monaten zu erkennen, in welche Lage wir garantiert geraten würden. Doch da war der Bildungsbürger zu beschäftigt, seine qua Bildung erworbene Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum zu nutzen, geimpft in den Urlaub zu brausen oder sonst wie die Moneten aus dem Fenster zu ballern - immer in dem Bewusstsein, dazu aufgrund der eigenen Leistung und der besseren Einsicht in »naturgesetzliche« Mechanismen des Erwerbslebens berechtigt zu sein. Doch der im Kapitalismus kultivierte, naturbeherrschende Vernunftzugriff auf die Lebensumstände dienen nur dazu, sich individuell möglichst gut und rücksichtslos auf dem Markt zu behaupten. Dass stets »selber schuld« ist, wer in diesem Spiel den Kürzeren zieht, ist genauso fest vorgesehen wie die Tatsache, dass so ein Spiel auch Verlierer*innen braucht.
Auf »Spiegel Online« schrieb Kolumnist Christian Stöcker: »Die vierte Welle ist politisch. Jetzt wird gestorben für den Widerstand gegen ›das System‹.« Er kam sich dabei vermutlich ziemlich überlegen und darum zu Unrecht bestraft vor. Stöcker zeigte dann etwa, wie die Impfverweigerung in den Landkreisen mit dem Zuspruch für die AfD zusammenhängt. Doch dass bereits alle drei Wellen zuvor genuin »politisch waren«, dass also 90.000 Menschen nicht im »Widerstand gegen das System« gestorben sind, sondern als Opfergabe »für das System«, zur Schonung der Kapitalinteressen vor einem Herunterfahren des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens, kommt ihm nicht in den Sinn. Er hält ihr Sterben für die unvermeidliche Konsequenz einer Naturkatastrophe. Erst dort, wo sie sich auf Ungeimpfte, Ungebildete, Abgehängte und Konsument*innen abseitiger Medien abwälzen lässt, erkennt Stöcker menschliche Verantwortung. Doch seinen Kolumnenplatz hat auch er in den Monaten zuvor nie dazu genutzt, vor der drohenden politischen Welle zu warnen.
Jahrzehntelang hat der gesellschaftliche (und auch linke!) Mainstream die Gefahren von Verschwörungserzählungen nicht ernst genommen. Jetzt sind sie liebster Feind geworden, weil sich den Anhänger*innen so schön die Schuld zuschieben lässt. Dabei gibt es Wissen darüber, dass wohl die meisten Ungeimpften nicht aus Gläubigen von Verschwörungsweltbildern bestehen, sondern aus gesellschaftlich Marginalisierten. Sie lesen eben keine Zeitung. Sie kennen den Staat vorwiegend als strafende Autorität in Uniform, als sadistische*r Sachbearbeiter*in im Jobcenter oder im Asylverfahren und haben darum allen Grund, niemandem zu trauen außer der eigenen, überschaubaren Welt.
Doch wenn wir monatelang wissen, dass sich ein relevanter Teil der Bevölkerung nicht wird impfen lassen, warum laufen wir dann als gebildete Menschen so bereitwillig in die Katastrophe? Es gibt also keine »Pandemie der Ungeimpften«. Was es gibt, ist eine Pandemie der Gebildeten. Sie haben ihre Bildung vor den Karren der zum Prinzip erhobenen Rücksichtslosigkeit des Marktes gespannt und wissen sich in der selbst herbeigeführten Katastrophe nicht besser zu helfen, als zu gewohnten Reflexen zu greifen: nach unten treten.
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