Der Ossi hat nix zu lachen

Die Dritte Schuld. Zur Annexions- und Assimilationspolitik der Bundesrepublik in der Post-DDR

  • Yana Milev
  • Lesedauer: 10 Min.

Die vereinigungsbedingten gesellschaftspolitischen und kulturellen Umbrüche, mit denen DDR-Sozialisierte ab 1990 konfrontiert wurden und die bis heute nicht in ihrer Dimension und ihren Folgen aufgearbeitet sind, ordne ich einer »Dritten Schuld« zu.

Mit »Erster Schuld« wird der deutsch-faschistische Überfall auf die Sowjetunion von 1941 bezeichnet, das »Unternehmen Barbarossa«, der Rassen- und Vernichtungskrieg in der Sowjetunion, der etwa die Hälfte der 70 Millionen Opfer im vom faschistischen Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg forderte und den Holocaust forcierte, der etwa drei Millionen sowjetischer Juden das Leben gekostet hat.

Mit »Zweiter Schuld« bezeichnete der Shoah-Überlebende Ralph Giordano die schnelle Wiedereingliederung von Nazi-Eliten in der Bundesrepublik. Sie beinhaltete eine vom Kanzleramt geforderte Entschuldung und Verjährung von NS-Verbrechen, eine Schlussstrichpolitik, den Bruch mit dem Potsdamer Abkommen, eine subventionierte Westbindung (Marshallplan), die den Kalten Krieg eröffnete, sowie die Planung einer Einverleibung der DDR bereits ab deren Gründung 1949.

Mit »Dritter Schuld« bezeichne ich die ab 1990 rückwirkende Kriminalisierung der DDR: die Gleichsetzung des »SED-Regimes« mit dem NS-Regime, des sozialistischen Staates mit einem Unrechtsstaat, ein Begriff, den die Juristen Gustav Radbruch und Fritz Bauer explizit auf den NS-Staat bezogen (!), sowie die Übertragung der in der Holocaust-Forschung nach Raul Hilberg vorgenommene Einteilung in Opfer, Täter und Mitläufer auch auf die DDR-Bevölkerung. Dazu gehört die als »Wiedervereinigung« getarnte Annexion der DDR, die sich auf staatsrechtlicher Ebene als Staatensukzession vollzog und das vollständige Einrücken bundesdeutscher Gesetzeskraft auf dem Territorium der DDR garantierte. Infolgedessen konnten sich Beschlagnahmung, Übernahme und Vernichtung des DDR-Produktivvermögens durch die Treuhandanstalt als exekutiver Arm des Bundesfinanzministeriums sowie eine bis heute nicht aufgearbeitete Vereinigungskriminalität hemmungslos ausbreiten.

Im Folgenden seien hier vier Methoden und Wirkungen der »Dritten Schuld« vertieft. Als Erstes die Staatslöschung, was treffend bereits das sarkastische Graffito am Fundament des abgerissenen Palastes der Republik in Berlin anprangerte: »Die DDR hat’s nie gegeben«. Die bundesdeutsche Ideologie der Nichtanerkennung der DDR als eigenständigen Staat sowie die Herabsetzung des Sozialismus als minderwertige und kriminelle Gesellschaftsordnung setzte sich ab 1990 rückwirkend und prospektiv in der vergrößerten Bundesrepublik fort.

Die Löschung der rechtlichen Identität der DDR - als Völkerrechtssubjekt, als Staatsrechtssubjekt, als Verfassungsrechtssubjekt und als Nation - sowie die Löschung der gesellschaftlichen und kulturellen Identität, hinterlassen in der Mehrheit der DDR-sozialisierten Bevölkerung ein sozialpsychologisches und erinnerungskulturelles Vakuum. Die Löschungspolitik von Rechtsbeständen und Rechtsubjekten, von Erinnerungskultur und kulturellem Erbe, von sozialem und symbolischem Kapital, die bis heute die Post-DDR-Bevölkerung betrifft, zielte und zielt auf die Aufhebung von deren Identifikation mit ihrer Herkunft aus dem 1990 verschwundenen Staat. Der damit einhergehende politisch und behördlich koordinierte Ausschluss der Ostdeutschen von Karrieren und gesellschaftlicher Gleichstellung, ihre Inferiorisierung als Mentalitäts- und Wertgemeinschaft hat in Millionen Biografien tiefe Spuren hinterlassen und sich in einer Mehrheit der Bevölkerung in den »Neubundesländern« als unausgesprochener Migrations- und Kulturkonflikt verfestigt. Die gesellschaftlichen Totalverwerfungen in Ostdeutschland hatten Vertreibung und Exilierung von nachweislich zwei Drittel der DDR-Sozialisierten zur Folge. Die Betroffenen wurden zudem in eine soziale Unsichtbarkeit abgedrängt.

Inzwischen sind, nach drei Dekaden, die Folgen eines verfestigten Ost-West-Konflikts in der deutschen Gesellschaft nicht mehr zu übersehen, wie sich unter anderem in Wahlergebnissen zeigt. Infolge des bundesdeutschen Kulturimperialismus (Frantz Fanon, Johan Galtung), der östlich der Elbe Einzug gehalten hat, ist nicht nur der dauerhafte Ausschluss von DDR-sozialisierten Akademiker*innen zu nennen, sondern generell eine Vertreibung und Exilierung eines »Volkes« im eigenen Land. Jene DDR-Sozialisierten, die sich dieser Erfahrung ausgesetzt sahen und noch heute sehen, bezeichne ich als Exil-Ostdeutsche. Es handelt sich um die Jahrgangskohorte der 1945 bis 1975 Geborenen.

Zweitens ist ein kultureller Rassismus (Begriff aus der Psychologie) zu registrieren: Entwertung und Ungleichbehandlung. Die gesellschaftliche Ungleichheit, die der Anschluss des Ostens an den Westen aufgeworfen hatte, ist das Resultat einer mitnichten überwundenen Kolonialdoxa, die nun als Dominanzkultur angeblich jenseits der Elbe »blühende Landschaften« entfaltete. Die 2018 verstorbene Sozialphilosophin der FU Berlin, Brigitte Rauschenbach, schrieb: »Der Ossi, einst für seine politischen Witze berühmt, hat nichts mehr zu lachen. Er hält in der Hand einen Schlüssel zu einer Welt, die es nicht mehr gibt. Die DDR ist weg, aber seine an ihr geformten Erfahrungen und Vorstellungen sind noch da.« In ihrer Studie »Unsere andere Geschichte. Versuch einer geteilten Erfahrung« konstatierte Rauschenbach Orientierungslosigkeit und Traumatisierung der Exil-Ostdeutschen nach der Wende. »Der Ossi in unserem Bahnhofswitz muss sich neu orientieren. Er nimmt Abschied von früheren Gewohnheiten, Bildern, Gemeinplätzen, Gefühlen, Erwartungen, Ängsten. Frische Ängste, Erwartungen, Gefühle, Bilder, Gemeinplätze, Gewohnheiten werden an ihre Stelle treten.«

Was die wenigsten der DDR-Bürger wussten, die gern bereit waren, neue Erfahrungen zu machen: dass sich ihre Herkunft mit jedem weiteren Schritt in den Westen hinein zu einem No-Go der gesellschaftlichen Integration herauskristallisierten würde. »Der Ossi in München, der Neubundesbürger macht diese teilnehmende Erfahrung, die ihn an das Verständnis der westlichen Welt heranführen wird«, so Rauschenbach. »Der Wessi aber, der an seinen Gewohnheiten festhalten kann, weiß (außer in seinen Vorurteilen) nichts von der Welt und dem Leben, das jenseits der Grenzen gelebt worden ist.«

Der »Wessi« weiß zumeist nichts von dem tiefen Absturz, den die Mehrheit der Ostdeutschen ab 1989/90 aus bisheriger gesellschaftlicher Gleichstellung und Sozialstaatlichkeit erlitt. Ein Absturz, der mit der Inferiorisierung dieser zu einer quasi indigenen-tribalen Minderheitsbevölkerung einherging und koloniale Argumentationsraster aufweist. Von dem dramatischen sozialen Umbruch haben sich viele Exil-Ostdeutsche bis heute nicht erholt. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn, Johannes Ludewig, hat diesen Umbruch einmal in folgende Worte gefasst: »Dabei ist im Westen nicht ein Lebensentwurf an der Wiedervereinigung zerbrochen. Im Osten gibt es hingegen keine Familie, in der nicht mindestens ein Mitglied an der Wende schwer zu tragen hatte.« Und noch zu tragen hat.

Erinnert sei hier auch an den 2015 verstorbenen Psychologen Walter Friedrich, Gründer und Leiter des legendären Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig. Er hat die gängige Extremismusfixierung auf DDR-Sozialisierte wie folgt kritisiert: »Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Aggressivität werden anscheinend häufig noch deshalb dem Konto der längst verblichenen DDR zugeschrieben, weil mit solchen Stereotypen die mental-charakterliche Inferiorität der Ostdeutschen als angeblich wissenschaftlich authentisch hingestellt werden kann. Damit können vermutlich außerwissenschaftliche Interessen bedient werden.« Der renommierte Wissenschaftler lehnte nicht nur die pauschale Stigmatisierung der Ostdeutschen als Rechtsextreme durch westdeutsche Deutungsinteressen ab, die er in handfesten politisch-ideologischen Motiven begründet fand, sondern ebenfalls, dass man meinte (und meint), die Ursachen für zunehmenden Rechtsextremismus seien nur in den »Strukturen des autoritären-diktatorischen DDR-Systems« zu finden. Beides ist abwegig.

Drittens: Tabuisierung von Traumafolgen, Komorbidität (Begleiterkrankungen) und anderen Beschädigungen. Laut einer Statistik des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) von 2019 ist die Zahl der Todesfälle durch Suizid, Alkohol und Drogen bei Männern in Ostdeutschland deutlich höher als in Westdeutschland. Selbstmorde waren bei ostdeutschen Männern im Erwerbsalter Anfang der 90er Jahre aufgrund der Schockereignisse fast dreimal so häufig zu verzeichnen wie bei gleichaltrigen Männern in Westdeutschland bzw. bei Männern mit westdeutscher Sozialisation. Trotz einer Verbesserung der Situation nach etwa zehn Jahren, besteht anhaltend eine doppelt so hohe Sterblichkeit bei ostdeutschen Männern bis heute fort.

Die US-amerikanischen Politikwissenschaftler Anne Case und Angus Deaton sprechen von »Death of Despair« (Tod aus Verzweiflung). Gründe für die zahlreichen Suizide und die hohe Sterblichkeitsrate unter ostdeutschen Männern war die plötzliche gesellschaftliche Entwertung durch Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit, durch Aberkennung von Dienstjahren und Renten oder durch deutliche Unterbezahlung, Ausschluss aus Vermögensbildung sowie Armut, durch akute soziale Einbrüche in Ostbiografien, die auch auf die nächsten Generationen übertragen werden.

Das Gefühl, den Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten zu können, kombiniert mit der Aberkennung von Lebensleistung, wie auch die öffentliche Diskriminierung der DDR-Herkunft und das Gefühl der gesellschaftlichen Überflüssigkeit haben zum akuten Anstieg von gesundheitlichen Problemen, zu Krankheiten und zur Verringerung der Lebenserwartung beigetragen. Dies bestätigt eine Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, die Daten der Deutschen Rentenversicherung von 65-jährigen Männern im Osten und Westen auswertete: »65-jährige Männer im Osten verlieren über die Zeit durchschnittlich ein potenzielles Lebensjahr, das sie hinzugewonnen hätten, wenn die sozio-ökonomische Struktur der Bevölkerung gleich geblieben wäre.«

Zur Risikogruppe ostdeutscher Mann im Erwerbsalter kommt die Risikogruppe adoleszente Jugend der inzwischen dritten und vierten Generation Ost. 2017 bestätigte eine Erhebung auf Grundlage von Proben im Grundwasser, dass Chemnitz die Crystal-Meth-Hauptstadt Europas ist, wie auch überhaupt in Sachsen ein krasser Substanzkonsum vor allem unter jungen Menschen nachweisbar ist. Eine weitere Studie des DIW belegt die Angst vor Stigmatisierung, der eine soziale Scham zugrunde liegt. Deshalb auch der private Rückzug vieler sogenannter Wendeverlierer in Ostdeutschland, was wiederum zu Vereinsamung und Krankheiten führt.

Eine AOK-Studie aus dem Jahr 2019 bekräftigt, dass sich die Lebenserwartung im Osten auf einem konstant niedrigeren Level als im Westen befindet. Auf einem unverhältnismäßig konstant höheren Level sind auch chronische Erkrankungen zu registrieren. Scham, Resignation und Verbitterung können schwere psychische Erkrankungen mit Komorbidität hervorrufen. Darüber hinaus ist der krasse Einbruch der Geburtenrate in Ostdeutschland zu nennen, die sich erst in letzter Zeit langsam wieder erholt.

Viertens: Verordnetes Vergessen und Geschichtsrevisionismus als Regierungsauftrag. Gemeint ist damit die Amnesie eines bundesdeutschen Geschichtsrevisionismus, der durch Bundesbehörden und zeithistorische Institute sowie durch Gedenkstättenarbeit im Beitrittsgebiet ab 1990 durchgesetzt wurde. Hierbei wurden die bundesdeutschen Geschichtsnarrative im Beitrittsgebiet implementiert, die bewusst einer Fehleinschätzung des DDR-Staates und Gesellschaftssystems Vorschub leisteten und zu einer kollektiven Erinnerungspathologie führten. Millionen Menschen wurden von Meinungsbildung und gesellschaftlicher Partizipation ferngehalten. Durch Elitentransfer, Institutionentransfer, Behördentransfer, Wissenstransfer, Bevölkerungsaustausch, Gentrifizierung, Segregation und vieles andere mehr wurde eine ganze Bevölkerung überflüssig gemacht und dem verordneten Vergessen, der Amnesie übergeben.

Der Umbau erinnerungskultureller Paradigmen in der Post-DDR, der ab 1990 unter der Ägide der bundesdeutschen CDU-Regierung und des »Einheitskanzlers« Helmut Kohl vollzogen wurde, war für viele DDR-Sozialisierte mit einer wissenssoziologischen Schocktherapie verbunden. Bis dahin gültige Geschichtsbilder, Geschichtsdeutungen sowie damit im Zusammenhang stehende Erinnerungsgemeinschaften und kollektive Identitäten wurden systematisch aufgelöst. Nachdem Medien- und Zeitungsverlage der alten Bundesrepublik die Erklärungshoheit auch für und in Ostdeutschland übernommen hatten, folgten die Institute der Demokratie- und Totalitarismusforschung sowie die zeithistorischen Institute, alle unter bundesdeutscher Leadership. Der Auftrag der herrschenden Assimilationspolitik lautet Diktaturenvergleich und Demokratieerziehung. Er beinhaltet die systematische Gleichsetzung von braunem und rotem Terror und damit die rückwirkende Auslagerung der nicht aufgearbeiteten zweiten deutschen Schuld auf die Post-DDR, was zwangsläufig in eine »Dritte Schuld« mündete.

Eine Politik der Leugnung und des Revisionismus läuft einer ernsthaften Aufarbeitung gesellschaftlicher Schuldkomplexe zuwider. Und nicht nur das. Nicht aufgearbeitete Schuld lastet auf den nächsten Generationen. Es ist mehrfach durch wissenschaftliche Forschungen belegt, dass die genannten Hypotheken intergenerativ übertragen werden, sofern sie in der öffentlichen Meinungsbildung tabuisiert wurden. Dies bestätigten unter anderem Studien der Otto-Brenner-Stiftung von 2019 und der sogar der (konservativen) Allensbach-Stiftung, ebenfalls 2019. Inzwischen ist zwar - dennoch recht spät - eine Aufarbeitung der »Ersten Schuld« in Bewegung gekommen, allerdings um den Preis einer »Dritten Schuld«.

Die 1989/90 von den meisten kritischen und aktiven DDR-Bürgern geforderte Staatsneugründung samt neuer Verfassung für das vereinigte Deutschlands wurde durch den Regime Change geschickt vereitelt. Die Folgen daraus sind eine bis heute ungelöste Deutschlandfrage, die einer katastrophalen EU-Politik den Weg ebnete und hoffentlich nicht wieder in globale Annexionspolitik mündet.

Die Documentakünstlerin, Kulturphilosophin und Soziologin Yana Milev, geboren 1969 in Leipzig, hat nach dem Studium an der Hochschule für Bildende Künste Dresden bei Peter Sloterdijk an der Akademie der bildenden Künste Wien promoviert und wurde 2014 an der Universität St. Gallen habilitiert. Sie war Dozentin unter anderem an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, der Zürcher Hochschule der Künste und der Universität St. Gallen. 2017 gründete sie die unabhängige Plattform AGIO (ArbeitsGemeinschaftInterOst) zur Realisierung des Forschungsprojektes »Entkoppelte Gesellschaft«, dessen Ergebnisse sie jüngst im Wissenschaftsverlag Peter Lang publizierte.

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