Schlussstrich in Deraa

Seit September herrscht in der syrischen Provinz Waffenstillstand. Der Wiederaufbau kann beginnen

  • Karin Leukefeld, Deraa
  • Lesedauer: 8 Min.

Eine Brücke vor der Kleinstadt Israa, unweit der Grenze zu Jordanien: Ein Konvoi von vier schwarzen Militärfahrzeugen mit verdunkelten Fenstern wirbelt Staub auf. Nur an den Wimpeln der Fahrzeuge ist zu erkennen, dass es sich um eine russische Patrouille handelt. Anfang September wurde mit russischer Vermittlung für die Provinz Deraa im Südwesten Syriens ein Waffenstillstand mit Regierungsgegnern der ersten Stunde vereinbart. Tausende Männer haben seitdem ihre Waffen abgegeben und erklärt, nichts mehr gegen den Staat Syrien unternehmen zu wollen.

Weil Deraa noch unter militärischer Kontrolle steht, dürfen Journalisten nicht auf eigene Faust unterwegs sein. Sie werden von Militärs begleitet. Als Kontaktmann dient der Presseoffizier Ali Oumran, der in Israa stationiert ist. Der Soldat winkt aus seinem Jeep, dass wir ihm folgen sollen. Er steuert den Wagen durch den Ort auf eine weitläufige Militärbasis, wo er sein Büro hat; später fahren wir in einem Wagen, um Sprit zu sparen.

Israa sei ein landwirtschaftliches Zentrum, erklärt der Offizier, als wir an einem mächtigen Getreidesilo vorbeifahren. »Hier links ist die Landwirtschaftskammer, dahinter liegen Betriebe, die Lebensmittel verarbeiten.« Dann zeigt er auf eine Kirche und sagt: »Die Hälfte der Bewohner von Israa sind Christen.«

Der Weg in die Provinzhauptstadt Deraa führt über schmale, teilweise beschädigte Landstraßen, rechts und links erstrecken sich Felder bis an den Horizont. »Sehen Sie dort hinten die Solaranlagen?« Oumran zeigt auf große Gerüste mit Solarpaneelen. »Die Bauern erzeugen jetzt ihren eigenen Strom, um Wasser auf die Felder zu pumpen«, sagt er. Doch es reiche nicht, überall sei der Strom knapp.

Syrien ist dagegen reich an Obst und Gemüse und hat vor dem Krieg Lebensmittel bis in die Golfstaaten geliefert. Doch im Krieg sind große Teile der zivilen Infrastruktur teilweise auch gezielt zerstört worden: Stromleitungen, Umspannwerke, Wassertürme. Auch Fabriken für die Verarbeitung von Lebensmitteln blieben nicht verschont, erzählt Oumran und hofft nun auf einen raschen Wiederaufbau. Voraussetzung ist, dass es friedlich bleibt, und dafür gibt es Hoffnung. 50 Dörfer im Umland der Stadt Deraa hätten den Friedensvertrag direkt unterzeichnet, erzählt er.

Der Geburtsort der Revolution

In westlichen Medien und von syrischen Oppositionellen wird Deraa bis heute als Geburtsort der Revolution bezeichnet. Dort lebte ein Junge, der im Frühjahr 2011 die zündende Parole gegen Präsident Baschar Al-Assad an die Mauer seiner Schule geschrieben haben soll. Dafür sei er mit seinen Freunden vom örtlichen Geheimdienst festgenommen und gequält worden. Inzwischen existieren in zahlreichen internationalen Zeitungen und Magazinen mindestens ein Dutzend verschiedene Versionen über den Vorfall, an dem sich dann die landesweiten Proteste entzündeten.

Was genau damals geschah, ist heute kaum noch zu rekonstruieren. Tatsache ist, dass von der Omari-Moschee im alten Teil von Deraa tägliche Proteste ausgingen. Nicht alle wollten seinerzeit den Sturz des Regimes. »Es geht nicht um Baschar. Wir wollen nur respektiert werden und wirtschaftlich unsere Rechte und unseren fairen Anteil erhalten«, erklärte ein hagerer Mann im Frühjahr 2011 einer Reporterin des Nachrichtensenders Al-Jazeera, die über eine Demonstration in Deraa berichtete. Rasch waren Tote zu beklagen, jeder Gang zum Friedhof wurde zu einem neuen und größeren Protestmarsch, woraufhin erneut Blut floss. Eine Delegation unter Leitung des Scheichs der Omari-Moschee wurde nach Damaskus zu einem Gespräch mit Präsident Assad eingeladen. Doch die getroffene Vereinbarung wurde nicht umgesetzt.

Zehn Jahre später liegen weite Teile der Stadt Deraa in Trümmern. Auf den Straßen herrscht dennoch reger Verkehr, Passanten sind unterwegs, vor allem Frauen und Kinder. Im Hauptquartier der Armee sitzt Brigadegeneral Nazim Makhluf hinter einem großen Tisch. Lächelnd weist er auf die Besuchersessel und beginnt ohne Umschweife zu erklären. Der vom russischen »Zentrum für die Versöhnung der verfeindeten Seiten in Syrien« vermittelte Waffenstillstand werde seit Anfang September eingehalten. Nur neun der Kämpfer hätten sich geweigert, ihre Waffen niederzulegen, erläutert der General. Diese Männer seien auf ihren Wunsch hin nach Idlib gebracht worden, das in kurdischer Selbstverwaltung ist.

Makhluf ist Oberbefehlshaber der syrischen Armee in Deraa und sagt auf die Frage, ob dem neu gewonnenen Frieden zu trauen sei: »Die Menschen haben erlebt, dass die Staaten, die sie lange unterstützten, nun kein Interesse mehr an ihnen haben. Geld, Waffen, Munition, medizinische Versorgung und Lebensmittel gibt es nicht mehr.« Die syrische Armee sei auf die Bevölkerung zugegangen, der Staat habe Hilfe angeboten, die Schulen und Krankenhäuser seien wieder geöffnet. Alle seien des Krieges müde und wollten nur noch in Ruhe ihr Leben wieder aufbauen. Ob Syrien denn den Nachbarstaaten Jordanien und Israel trauen könne, die im Krieg die Aufständischen unterstützt hätten? »Wir nehmen zur Kenntnis, dass manche Staaten ihre Haltung Syrien gegenüber geändert haben oder dabei sind, sie zu ändern. Das respektieren wir«, sagt Makhluf ausweichend. Die schlechtesten Erfahrungen habe Syrien in den letzten zehn Jahren allerdings mit Israel, der Türkei und den USA gemacht. »Sie respektieren das Völkerrecht nicht.« Daher könnten sie nicht als Partner angesehen werden.

Pässe vom Versöhnungszentrum

In einem Versöhnungszentrum, das in einem ausgebrannten Gerichtsgebäude untergebracht ist, können sich junge Männer registrieren lassen, die desertiert oder im Gebiet unter Kontrolle der bewaffneten Aufständischen geblieben waren. Ein Offizier erläutert dort das Verfahren, an dem militärische und zivile Richter beteiligt sind. Die Männer unterzeichnen eine Erklärung, in der sie versichern, alles zu tun, um Syrien sicher zu machen und beim Wiederaufbau zu helfen. Wenige Tage später können sie sich dann einen Ausweis abholen, der ihnen wie ein Personalausweis in ganz Syrien Bewegungsfreiheit gibt. Er sei froh, mit den letzten Jahren abgeschlossen zu haben, sagt einer der Männer, der stolz seinen Ausweis in die Kamera hält. »Aber jetzt brauche ich Arbeit, wir müssen essen!«

Es ist Mittagszeit. Die Schule ist aus, und ganze Schulklassen von Mädchen strömen über die Straßen im Zentrum der Stadt. Fast alle tragen Kopftücher, die Zahl der Mädchen, die kein Kopftuch tragen, lässt sich an einer Hand abzählen. Sie wollen sich nicht fotografieren lassen, fast alle drehen ihre Köpfe weg. Diejenigen, die nicht wegsehen oder sich umdrehen, tragen Corona-Schutzmasken, die die jungen Gesichter verbergen.

Deraa sei eine konservative Stadt geworden, sagt Ali Oumran. »Früher unterrichteten Lehrerinnen aus dem ganzen Land hier an den Schulen. Ob sie ein Kopftuch trugen oder nicht, spielte keine Rolle.« Die Religion sei immer eine private Sache gewesen, fügt er hinzu. »Wir sind damit aufgewachsen, dass die Religion eine Sache zwischen dem Menschen und Gott sei«, fährt er fort. Gegenseitiger Respekt vor den verschiedenen Religionen habe über Generationen hinweg eine Sicherheit der Menschen garantiert. Doch der Krieg habe die Gesellschaft verändert, sagt er dann nachdenklich und schweigt.

Wo der Aufstand begann

Der Weg zur Omari-Moschee im alten Teil von Deraa führt über das Yarmuk-Tal. Einst versorgte der Fluss Syrien und Jordanien mit Wasser. Saftiges Grün gibt es aber längst nicht mehr. Der Yarmuk, der weiter westlich in den Jordan fließt, ist nur ein Rinnsal. Im Innenhof der Moschee haben Arbeiter die Steine des zerstörten Minaretts zusammengetragen. Sie bereiten die Restaurierung des Bauwerks vor, das aus dem 12. Jahrhundert stammt, wie ein Arbeiter sagt. Andere Quellen datieren den Bau auf das 8. Jahrhundert. Benannt ist die Moschee nach dem Kalifen Omar ibn Al-Khattab, der unter sunnitischen Muslimen als einer der vier rechtgeleiteten Kalifen gilt.

Ein großer Mann mit dichtem Bart tritt durch einen Seiteneingang in den Hof und spricht wie ein Fremdenführer. Im 18. Jahrhundert sei die Moschee durch ein Erdbeben beschädigt worden. Dann hätten die vergangenen Jahre Spuren hinterlassen. Vor dem Krieg seien bis zu 3000 Gläubige jeden Freitag in die Moschee zum Gebet gekommen, viele von ihnen außerhalb der Mauern. Nun seien es höchstens noch 700 Gläubige, die im Innenhof beteten, soweit die Bauarbeiten es zuließen.

Seinen Namen möchte er nicht nennen. »Schreiben Sie Abu Ali«, meint er. Nein, der Scheich der Moschee sei er nicht. Er gehöre einer Gruppe an, die die Moschee wieder aufbauen werde. Gefragt, wo der Platz für die Frauen in der Moschee sei, zeigt Abu Ali auf eine hinter Ecke. Dort sei eine Tür in der Außenmauer, und durch einen separaten mit Tüchern verhängten Eingang gelangten die Frauen in die Moschee. Mangels verhüllender Kleidung sei ein Besuch für den deutschen Gast aber nicht möglich, so Abu Ali: »Möge Gott Ihnen helfen, eine muslimische Dame zu werden.«

Zurück auf der Militärbasis in Israa wird Ali Oumran persönlich. Ob man in Deutschland überhaupt wissen wolle, was in Syrien geschehe, fragt er. »Wenn ich dort über diesen ungerechten Krieg sprechen würde, würden die Leute mir zuhören?«

Der 55-Jährige ist seit fast dreieinhalb Jahrzehnten in der Armee, ließ sich zum Piloten ausbilden, war später selbst Ausbilder. Zu Beginn des Krieges wurde er am Flughafen Kuwaires östlich von Aleppo eingesetzt. Seine Einheit sei vom Islamischen Staat (IS) sowie von anderen bewaffneten Gruppen angegriffen worden. Drei Jahre lang wurden sie belagert, mehrmals sei er verletzt worden. Westliche und die sozialen Medien im Internet hätten den Krieg mit angeheizt, meint er. »Die Globalisierung hat aus der Welt ein Dorf gemacht. Es ist unmöglich, die Verbreitung von Nachrichten zu kontrollieren, auch wenn sie verzerrt sind.«

Das Versöhnungsangebot des Staates sei ohne Vorbedingungen, betont er. »Wer das Angebot annimmt, gegen den werden alle Vorwürfe fallengelassen. Wir haben genug Krieg, Tod und Zerstörung erlebt.« Alle Syrer hätten unter dem Krieg gelitten, so Oumran. Und was die deutsche Regierung betreffe, so hoffe er, »dass die sich nicht gegen uns wendet, wenn sie uns schon nicht unterstützen will«.

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