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»Uns kann der russische Generalstaatsanwalt nichts«
Wie die Menschenrechtler von Memorial Deutschland gegen das drohende Verbot ihres russischen Dachverbandes protestieren
Anke Giesen ist empört. Grund ist der Antrag der russischen Generalstaatsanwaltschaft zur Liquidierung des Memorial-Dachverbandes von Mitte November. »Wir waren erst mal zutiefst schockiert«, erzählt die 57-jährige Osteuropahistorikerin, die Vorstandsmitglied des deutschen Zweiges der ältesten russischen Menschenrechtsorganisation ist, »auch wenn uns diese Nachricht nicht überrascht hat.« Schon länger habe die russische Führung deutlich gemacht, dass sie die Aufarbeitung der stalinschen Repressionen und Kritik am staatlichen Umgang mit den gewaltvollen Seiten der sowjetischen Geschichte nicht mehr sonderlich schätze. »Aber dass sie so weit gehen und gegen den internationalen Dachverband sowie das angesehene Menschenrechtszentrum vorgehen, hat uns dann doch schockiert.«
Rund 160 Menschen engagieren sich ehrenamtlich bei Memorial Deutschland, das 1993 zunächst als Förderverein des Petersburger Zweiges der Menschenrechtsorganisation gegründet wurde. Die Stadt an der Newa litt damals schwer unter den Folgen der wirtschaftlichen Schocktherapie, die Russlands erster Präsident Boris Jelzin seinem Land verordnet hatte. Die deutschen Aktivisten wollten vor allem den Opfern der deutschen Blockade der Stadt im Zweiten Weltkrieg sowie ehemaligen Gulag-Häftlingen helfen. Später schlossen sich vor allem Osteuropahistoriker und Slawisten Memorial Deutschland an. Mittlerweile engagieren sich auch Migranten aus dem postsowjetischen Raum. Auch in München gibt es seit 2008 eine kleine Memorialgruppe. Die Aktivisten erforschen Verbrechen der sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland wie willkürliche Erschießungen nach dem Krieg. Außerdem organisieren sie zivilgesellschaftliche und menschenrechtliche Projekte, die beispielsweise die Situation junger Flüchtlinge aus Tschetschenien in den Blick rücken.
Die Tätigkeit des deutschen Ablegers sei von der drohenden Liquidierung des Memorialdachverbandes allerdings nicht betroffen. »Wir sind ja eine deutsche Organisation und ins deutsche Vereinsregister eingetragen«, erklärte Anke Giesen. »Uns kann der russische Generalstaatsanwalt nichts.« Die Arbeit werde fortgesetzt. Allerdings fiele mit der Liquidierung des Dachverbandes - in dem neben Ablegern in Tschechien, Italien, Deutschland, Belgien, Frankreich und der Ukraine 60 regionale russische Memorialorganisationen vertreten sind - dessen koordinierende Funktion weg. »Das starke Zentrum in Moskau, das auch einen Schutzschirm über die regionalen Organisationen spannt, würde verloren gehen«, erklärt die 57-Jährige.
Was man gegen dieses drohende Szenario unternehmen könne? »Wir machen das, was man üblicherweise so macht«, erläutert Anke Giesen. »Wir haben Erklärungen verfasst und Petitionen unterschrieben.« Auch eine Mahnwache vor der russischen Botschaft habe Memorial Deutschland am vergangenen Mittwoch organisiert. Zu der Protestaktion kamen etwa 50 Menschen mit Transparenten; Sprecher kritisierten den Vorstoß der russischen Generalstaatsanwaltschaft. Auch Vertreter des Zentrums Liberale Moderne, des Deutsch-Russischen Austauschs (DRA) und des Forums Russischsprachiger Europäer - die im Mai in Russland als unerwünschte Organisationen eingestuft wurden - beteiligten sich. »Es war gut, dass praktisch alle Organisationen, die in Berlin mit dem Thema Russland und den deutsch-russischen Beziehungen befasst sind, vertreten waren«, freut sich Anke Giesen. Auch den Moskauer Kollegen habe die Unterstützung sehr gut getan. »Sie haben gemerkt, dass man weltweit Notiz nimmt.«
Zu den vergleichsweise geringen Teilnehmerzahlen der Protestaktion äußert sich die Historikerin zurückhaltend. »Die deutsche Öffentlichkeit ist beim Thema Russland und Putin ja immer auch ein Stück gespalten«, gibt Anke Giesen zu bedenken. »Und ich glaube, dass viele dem auch gleichgültig gegenüberstehen.«
Dennoch müsse sich Deutschland ernsthafte Gedanken über den weiteren Umgang mit Russland machen. Denn das Vorgehen gegen die älteste und bekannteste russische Menschenrechtsorganisation demonstriere exemplarisch, dass rechtsstaatliches Denken in Russland immer weiter abnehme. Moskau beschäftige sich zunehmend nur noch mit den heroischen Anteilen der eigenen Geschichte. Leidvolle und schwierige Aspekte würden dagegen ausgeblendet. »Das halte ich für eine sehr, sehr beunruhigende Entwicklung«, sagt Anke Giesen. »Ist es wirklich zielführend für die Stabilität des eigenen Rechtsstaates und der Demokratie, sich immer enger wirtschaftlich mit einem solchen Land zu verbinden?«
Trotz der vorläufigen Vertagung einer endgültigen Gerichtsentscheidung an diesem Donnerstag rechnet Anke Giesen fest mit einem endgültigen Verbot des internationalen Memorial-Dachverbandes. »In Moskau sind alle auf das Schlimmste gefasst«, erzählt sie von Gesprächen mit russischen Kollegen. Komme es zum Aus, müsse man erst mal überlegen, wie man mit der Situation umgehe. »Man könnte natürlich auch einen Dachverband neu gründen, möglicherweise auch im europäischen Ausland«, erläutert sie erste Überlegungen der Menschenrechtler. »Das wäre ja alles denkbar.«
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