Von Mücken und Meinungsfreiheit

Vor allem Frauen gründen in Kasachstan momentan ihre eigenen Medien. Ein Risiko in einem Land, in dem freie Berichterstattung kaum möglich ist. Besuch bei drei Journalistinnen, die es trotzdem gewagt haben

  • Othmara Glas, Almaty
  • Lesedauer: 8 Min.

Aisana Aschim ist eine viel beschäftigte Frau. Mit ihren 29 Jahren gehört sie zu den erfolgreichsten Medienunternehmer*innen Kasachstans. Die Journalistin hat bereits zwei Medien gegründet und arbeitet momentan an einem dritten Projekt. Sie setzt sich für Frauenrechte ein und kritisiert die Regierung - in einem Land, in dem Journalist*innen und Blogger*innen immer wieder genau dafür verhaftet werden. Doch die junge Frau hat keine Angst, offen ihre Meinung zu sagen.

Im vergangenen Jahr hat Aschim zusammen mit einer Kollegin die Nachrichtenseite »Masa Media« ins Leben gerufen: Eine Plattform, die junge Menschen über ihre Rechte und Politik aufklären will. »Jemand kann dich überfahren und ohne Strafe davonkommen«, sagt Aschim. Sie hat genug von der Ungerechtigkeit im Land. »Masa« ist das kasachische Wort für Mücke und fasst die Mission der Seite gut zusammen: Die Regierung so lange nerven und piksen, bis sich etwas im Land verändert.

Aschim ist kein Einzelfall in Kasachstan. Viele Journalist*innen machen sich selbstständig, um unabhängig berichten zu können. Sie gründen ihre eigenen Medien oder nutzen die sozialen Netzwerke für ihre Geschichten. Unter den Gründer*innen sind auffällig viele Frauen. Zwar gibt es keine genauen Angaben, wie viele Journalist*innen in dem zentralasiatischen Staat weiblich sind. Schätzungen von Medienverbänden gehen jedoch davon aus, dass ihr Anteil zwischen 70 und 80 Prozent liegt. Also sind es - laut der Verbände - vor allem Journalistinnen, die über schwierige Themen wie Vetternwirtschaft oder andere Missstände schreiben.

Ortswechsel: Dschamilja Maritschewa sitzt mit ihrem Computer in einem Café im Zentrum von Kasachstans größter Stadt Almaty. Die Journalistin arbeitet oft an den Wochenenden, um all ihre Projekte und Aufträge zu schaffen. In den vergangenen Jahren ist sie zu einer der renommiertesten Datenjournalist*innen in Zentralasien geworden. Ihr Spezialgebiet: Staatsausgaben und Korruption. »Ich sehe eine Zahl und kann dazu eine Geschichte schreiben«, sagt Maritschewa. Schon früh habe sie gemerkt, dass es ihr leichter falle, über Themen wie Korruption zu schreiben als beispielsweise über Kultur. »Und ich liebe es, mit Dokumenten zu arbeiten,« ergänzt die Journalistin, »denn anders als Menschen lügen Zahlen nicht.« Im März 2020 startete sie den Instagram-Kanal »ProTenge.kz«. Der Tenge ist die Währung Kasachstans. »Ich präsentiere seriöse Inhalte auf einer nicht-seriösen Plattform«, scherzt sie.

Fast täglich veröffentlicht Maritschewa einen Post. Mittlerweile hat ihr Kanal mehr als 50 000 Abonnent*innen. Meistens geht es um ernste Themen wie das Armutslevel der Bevölkerung in Kasachstan oder die Summen, die Spitzenpolitiker für ihre Büros aufwenden. Manchmal postet sie zu Zahlen aber auch Tiervideos und Tierbilder, die zum Schmunzeln einladen. »Eigentlich wollte ich nie gründen«, erzählt Maritschewa, die aus dem Norden des Landes stammt.

Doch vor zwei Jahren, nachdem sie bereits für mehrere überregionale Medien als Korrespondentin und Redakteurin tätig gewesen war, habe es für sie kein Medium mehr gegeben, für das sie als Angestellte hätte arbeiten wollen. »Ich wollte mein eigenes Projekt umsetzen.« Seit Kurzem produziert die heute 37-Jährige auch Videos zu ihren Recherchen. Viel Arbeit für sie und ihr Team, das seit dem Start des Projekts von zwei auf fünf Mitarbeiter*innen angewachsen ist.

Der Staat kontrolliert die Medien

Soziale Medien wie Facebook, Instagram oder der russische Messengerdienst »Telegram« bieten Journalist*innen in Zentralasien Plattformen, auf denen sie ihre Meinung frei äußern und kritisch berichten können. In der Rangliste der Pressefreiheit, die jährlich von »Reporter ohne Grenzen« veröffentlicht wird, belegt Kasachstan aktuell Platz 155 von 180. Viele Medien sind finanziell vom Staat abhängig, um zu überleben, Redakteur*innen üben häufig Selbstzensur aus. Freie Medien gibt es kaum noch - und wenn, werden sie vom Staat beobachtet.

Manchmal aber bleibt es nicht bei der Beobachtung, wie Aisana Aschim weiß. 2017, mit gerade einmal 25 Jahren, gründete sie den kasachischen Ableger von »The Village«, eine Zeitschrift für Lifestyle-Themen. Es geht um Musik, Mode, Kunst, aber auch um Wirtschaft und Politik. Als das Magazin vor zwei Jahren über die Massendemonstrationen nach dem Rücktritt des Langzeitpräsidenten Nursultan Nasarbajew berichtete, wurde die Internetseite von »The Village« kurzerhand von den Behörden gesperrt.

Das ist einer der Gründe, warum Politik eine eher untergeordnete Rolle bei »The Village« spielt. Ein weiterer ist: Obwohl die starke Luftverschmutzung in Almaty oder auch die Privatisierung von Naturschutzgebieten alle Menschen in der Stadt interessieren sollte, kämen diese Themen weder bei den Leser*innen des Lifestyle-Magazins noch bei den Werbepartner*innen, zu denen insbesondere große westliche Firmen gehören, gut an, meint Aschim.

Aschim wollte jedoch als Journalistin und Medienmanagerin politischer werden. Vor allem, nachdem Nasarbajews Rücktritt im März 2019 eine Protestwelle auslöste. Die Demonstrant*innen forderten freie und faire Wahlen. Auch deutsche Medien berichteten von einem »kasachischen Frühling«. Passiert ist unter dem neuen Präsidenten Qassym-Schomart Toqajew allerdings wenig in Sachen Demokratie. Wahlgewinner*innen stehen schon vor den Abstimmungen fest, Aktivist*innen werden weiterhin mit fadenscheinigen Begründungen verhaftet.

So wuchs für die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin der Wunsch, »Masa Media« zu gründen. Die Website richtet sich vor allem an eine jüngere Leser*innenschaft. »Denn sie sind die Zukunft unseres Landes und können noch am ehesten etwas verändern«, ist Aschim überzeugt. Das Ziel sei es, junge Menschen über ihre Rechte zu informieren und so für politischen Aktivismus zu begeistern. Dabei beantwortet das Medium Fragen wie: Wie finde ich einen guten Anwalt? Was tue ich, wenn ich auf der Straße von einem Polizisten angehalten werde? Wie starte ich eine erfolgreiche Petition?

Aschim, die sich auch selbst zivilgesellschaftlich engagiert, beteuert, dass alle Artikel bei »Masa Media« journalistische Standards einhalten. »Wir wollen kein Sprachrohr für Aktivisten sein, aber natürlich berichten wir über sie.« Dass der kasachische Staat es aber nicht nur bei der Sperrung von Webseiten belässt, zeigen andere Fälle. Vor allem während des Corona-Jahres 2020 standen Journalist*innen und Blogger*innen immer wieder vor Gericht, weil sie angeblich den Präsidenten beleidigt oder Unruhe gestiftet haben sollen. Einige berichten sogar von tätlichen Angriffen.

Verfolgung von Journalist*innen

Wie es ist, von der eigenen Regierung unter Druck gesetzt zu werden, weil man kritisch über sie berichtet, weiß Tatjana Trubatschewa. Acht Jahre lang arbeitete sie bei der Oppositionszeitung »Respublika«. Wie Maritschewa hat auch sie sich auf Korruption spezialisiert. Sie erzählt, wie Mitarbeiter*innen der Zeitung mit Klagen überzogen worden seien. Letztendlich wurde »Respublika« von den Behörden die Medienlizenz entzogen. Auf dem Höhepunkt der Repressionen gab es sogar Hinweise, dass Trubatschewas Leben bedroht gewesen sei. Sie floh mit ihrer Tochter eine Zeit lang nach Russland.

Nach der endgültigen Einstellung der Zeitung war es für die heute 44-Jährige und ihre Kolleg*innen schwierig, wieder Arbeit zu finden. »Andere Medien hatten Angst, uns einzustellen.« Letztendlich kam sie beim kasachischen Ableger des Wirtschaftsmagazins »Forbes« unter, wo sie bis vergangenes Jahr als stellvertretende Chefredakteurin gearbeitet hat. Nun ist sie Ressortleiterin bei einer Wirtschaftszeitung.

Im vergangenen Jahr erregte ihre Recherche zu einem Raumschiff am Weltraumbahnhof Baikonur, das man für umgerechnet etwas mehr als 2000 Euro hätte kaufen können, Aufsehen. Ähnlich wie Dschamilja Maritschewa sieht sie jedoch bei bestehenden Medien in Kasachstan kaum mehr Aufstiegschancen und spielt ebenfalls mit dem Gedanken, ihr eigenes Medienprojekt auf die Beine zu stellen.

Zu wenig Geld, zu wenig Ansehen

Bei der Frage, warum in Kasachstan eigentlich so wenig Männer den Journalistenberuf ergreifen, sind sich alle drei Frauen einig: Zu wenig Geld, zu wenig Ansehen. Der Beruf sei einfach nicht attraktiv genug für die meisten Männer. Dass Aisana Aschim mit 29 Jahren schon zwei Medien gegründet hat, sei so aber wohl auch nur in Kasachstan möglich, sagt sie. Bei 18 Millionen Einwohner*innen fehle es an Konkurrenz. »Ein kleines Land eröffnet mehr Möglichkeiten.«

Während sich »The Village« über Werbeeinnahmen finanziert, sind andere Medienneugründungen wie der Instagram-Kanal von Maritschewa von Stipendien und Fördergeldern internationaler Organisationen abhängig. Doch auch sie ist in Kasachstan konkurrenzlos: Als Expertin in Sachen Open Source kennt sie die Wege, an Informationen zu kommen, die öffentlich zugänglich sind. Nur wissen in Kasachstan die Wenigsten, wie man danach sucht. Aber für die Veröffentlichung von Daten, die im Internet stehen, kann auch der kasachische Staat niemanden verhaften lassen. Fast wirkt es wie eine Trotzreaktion, in einem solchen Umfeld ein eigenes Medium zu gründen. Doch Maritschewa und ihr Team haben Erfolg. Als sie Mitte März ein Video darüber veröffentlichen, dass die kasachische Arbeitsagentur 41 Millionen Tenge (umgerechnet 82 000 Euro) für Fitnessklub-Mitgliedschaften ausgegeben hat, und plant, weitere im Wert von 54 000 Euro zu kaufen, teilten so viele Nutzer*innen das Video, dass das entsprechende Ministerium innerhalb von wenigen Stunden darauf reagierte und von weiteren Ausgaben absah.

Auch Aisana Aschim hofft, dass sich ihre Arbeit irgendwann auszahlt. Sie sagt, die Regierung nehme »Masa Media« nicht ernst genug. Die Seite hat sogar eine offizielle Medienlizenz erhalten. »Sie sehen uns noch nicht als Gefahr, doch wenn sie aufwachen, wird es zu spät sein.« Maritschewa sieht schon heute einen Paradigmenwechsel in Kasachstan: »Früher wurde ein Medium dafür kritisiert, wenn es über Proteste berichtet hat. Heute wird ein Medium dafür kritisiert, wenn es nicht darüber berichtet.«

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.