Der Bund durfte notbremsen

Karlsruhe: Schulschließungen, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen waren verfassungskonform

Es ist noch gar nicht so lange her, dass mit der sogenannten Bundesnotbremse gegen die dritte Corona-Welle vorgegangen wurde. Vom 23. April bis Ende Juni ermöglichte die bundeseinheitliche Notbremse - offiziell das »Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« -, ab bestimmten Inzidenzwerten Schulschließungen, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen anzuordnen. Vielen gingen diese Maßnahmen zu weit, und das Bundesverfassungsgericht musste sich in den vergangenen Monaten mit Klagen gegen die massiven Einschränkungen beschäftigen.

Nun, inmitten der vierten und bisher schlimmsten Welle, in der erneut weitgehende Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung gefordert werden, veröffentlichten am Dienstag die Karlsruher Richter ihre Entscheidungen zur Notbremse - und kommen zum Schluss: Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie die Schulschließungen waren rechtens. Mehrere entsprechende Verfassungsbeschwerden wies Karlsruhe ab.

Laut Gericht seien die beanstandeten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen Bestandteile eines Schutzkonzepts des Gesetzgebers gewesen. »Dieses diente in seiner Gesamtheit dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems als überragend wichtigen Gemeinwohlbelangen«, so das Gericht. Die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen seien »in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie mit dem Grundgesetz vereinbar«, urteilen die Richter und betonen, »insbesondere waren sie trotz des Eingriffsgewichts verhältnismäßig«.

Auch in Bezug auf die Schulschließungen urteilt das höchste Gericht, dass diesem massiven Eingriff »überragende Gemeinwohlbelange in Gestalt der Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit und für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems« gegenüberstanden. Und dass diesen Gefahren »nach der seinerzeit vertretbaren Einschätzung des Gesetzgebers auch durch Schulschließungen begegnet werden konnte«.

In ihren Entscheidungen machen die Richter gleichzeitig deutlich, dass es sich bei den getroffenen Maßnahmen um schwere Grundrechtseingriffe gehandelt hat. So heißt es zu den Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, dass diese »in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte« eingegriffen hätten. Mit Blick auf umfassende Ausgangssperren wird zudem betont, sie kämen »nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht«. Mit seinem Beschluss zu den Schulschließungen habe Karlsruhe auch »erstmals ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung anerkannt«, heißt es vonseiten des Bundesverfassungsgerichts. In dieses Recht hätten »die seit Beginn der Pandemie in Deutschland erfolgten Schulschließungen in schwerwiegender Weise« eingegriffen.

Gegen die Bundesnotbremse waren unter anderem FDP-Bundestagsabgeordnete und die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) nach Karlsruhe gezogen. Letztere zeigte sich zumindest mit den »hohen Hürden, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat«, zufrieden. Das Gericht habe zwar die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, aber auch festgestellt, dass Ausgangssperren nur »in einer äußersten Gefahrenlage« in Betracht kommen. Zusätzlich sei auch die Notwendigkeit von ausdifferenzierten gesetzlichen Lösungen auf wissenschaftlicher Basis und mit Ausnahmetatbeständen betont worden. »An diesen hohen Maßstäben muss sich der Gesetzgeber auch in Zukunft messen lassen«, so GFF-Vorsitzender Ulf Buermeyer.

Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion und designierte Bundesjustizminister Marco Buschmann reagierte enttäuscht auf die Entscheidungen: »Wir hätten uns ein anderes Ergebnis gewünscht«, selbstverständlich respektiere seine Partei aber das Urteil des höchsten Gerichts. Beim Thema Schulschließungen sieht Buschmann den derzeitigen Kurs der künftigen Ampel-Regierung bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht habe »zum ersten Mal ein Recht auf Bildung anerkannt« und »damit unterstrichen, dass die Belange von Schülerinnen und Schülern ausreichend in den Abwägungen des Gesetzgebers zur Pandemiebekämpfung auch Berücksichtigung finden müssen«. Generell sollten Schulschließungen nur das letzte Mittel sein und vermieden werden, so Buschmann. Dies hätten SPD, Grüne und FDP im novellierten Infektionsschutzgesetz verankert.

Schlussfolgerungen abseits der akuten Coronakrise zieht aus den Karlsruher Entscheidungen der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag, Jan Korte. Die Entscheidungen aus Karlsruhe bewertet er als »Arbeitsauftrag an Bund und Länder«. Das vom Gericht formulierte Recht von Kindern auf Bildung bedeute in der Praxis nichts anderes, »als dass Bund und Länder jetzt ein Milliardenprogramm für mehr Personal, für Schulsanierungen und IT-Ausstattung auflegen müssen«, so Korte. Und wenn persönliche Freiheiten wegen der überragenden Wichtigkeit eines funktionsfähigen Gesundheitssystems eingeschränkt werden könnten, »dann kann man auch Kliniken verstaatlichen, die ihr Personal ausbeuten, um die Dividende hochzutreiben«.

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