Kaltblütiger Einsatz am Schulhof

Abschiebung eines Erstklässlers sorgt für Empörung. Koalition ringt weiter um Richtlinie

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit September besuchte der siebenjährige Ahmad T. eine Grundschule in Delitzsch. In der Stadt in Nordsachsen lebte er mit seiner Mutter, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann aus Tschetschenien geflohen ist, und ihrer Großmutter. Der Erstklässler habe »für sein Alter gut ausgeprägte Sprachkenntnisse«, wird seine Bezugslehrerin zitiert; Probleme habe es nie gegeben. Am 30. November endete Ahmads kurze Schulzeit in Sachsen jäh. Auf dem Weg vom Unterricht zum Hort sei er von Bundespolizisten in Empfang genommen und in ein Einsatzfahrzeug verfrachtet worden, »unter den Augen der Mitschüler*innen und des Lehrpersonals«, wie es in einer Mitteilung des Sächsischen Flüchtlingsrats heißt. Danach sei Ahmad T. zusammen mit seiner Mutter und der Großmutter an die polnische Grenze gebracht und abgeschoben worden.

Der Fall sorgt für Empörung, zu allererst in der betroffenen Schule. Einen Erstklässler vor anderen Schulkindern in ein Polizeiauto zu stecken, »kann nicht normal sein«, zitierte der Flüchtlingsrat den Hortleiter, der das Vorgehen der Beamten als »Kindeswohlgefährdung« einstufte. Dave Schmidtke vom Flüchtlingsrat verwendete den Begriff ebenfalls. Er sprach von einem »Tabubruch« und merkte an, mit dem Vorgehen werde eine Traumatisierung riskiert: »Das klingt nach dem Gegenteil von Kindeswohl.«

Der Begriff ist insofern brisant, als er sich auch im Koalitionsvertrag des Regierungsbündnisses aus CDU, Grünen und SPD findet. Die drei Parteien hatten im Herbst 2019 versprochen zu »gewährleisten, dass Abschiebungen durch Behörden des Freistaats für Betroffene so human wie möglich und unter Berücksichtigung des Kindeswohls gestaltet werden«.
Die Umsetzung des Vorsatzes lässt indes auf sich warten. Immer wieder kommt es zu Abschiebungen, die nachts vollzogen werden, deren Betroffene am Ausbildungsplatz aufgegriffen oder von ihren Familien getrennt werden. Auch schwere Erkrankungen sähen Behörden nicht als ein Hindernis an, hieß es bei der Abschiebehaft-Kontaktgruppe Dresden, als im Mai zum wiederholten Mal über die drohende Abschiebung eines in Meißen lebenden, dort verheirateten und berufstätigen pakistanischen Christen gestritten wurde, dem in seinem Herkunftsland die Todesstrafe droht. Der Fall sei »ein Anzeiger dafür, dass mit dem Asylrecht und besonders seiner rigiden Umsetzung in Sachsen etwas nicht stimmt«, sagte damals Jörg Eichler vom Flüchtlingsrat.

Im Laufe des Jahres gab es dafür weitere Aufsehen erregende Beispiele, allen voran die Abschiebung einer neunköpfigen und gut integrierten Familie aus Pirna nach Georgien. Sie hatte seit acht Jahren in der Bundesrepublik gelebt; etliche Kinder waren erst hier geboren. Obwohl Kinder beteiligt waren, erfolgte die Abschiebung nachts; die Polizisten gaben der Familie eine Stunde zum Packen und verfrachteten sie dann in ein Flugzeug nach Tiflis. Dass sich die sächsische Härtefallkommission kurzfristig des Falles angenommen hatte, half nichts. Erst nach einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts, das die Abschiebung für rechtswidrig erklärte, war die Wiedereinreise möglich.

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Weil solche Fälle in eklatantem Widerspruch zum Koalitionsvertrag stehen, ist die Frage der Abschiebungen zur permanenten Zerreißprobe für das Regierungsbündnis im Freistaat geworden. Franziska Schubert, die Fraktionschefin der Grünen, hatte sie sogar als ihre »Achillesferse« bezeichnet. Eigentlich soll der Konflikt mithilfe eines Leitfadens befriedet werden, der Vorgaben an die Behörden formuliert. Unterbleiben müssten beispielsweise Abschiebungen in der Nacht und aus Bildungseinrichtungen sowie Trennungen von Familien, bekräftigte die grüne Abgeordnete Petra Čagali Sejdi angesichts des jüngsten Falls in Delitzsch. Doch das von Roland Wöller (CDU) geführte Innenministerium legte zuletzt einen Entwurf vor, den die Grünen als »nicht geeignet« ansahen, Menschenwürde und Kindeswohl bei Abschiebungen zu sichern. Auch der Koalitionsausschuss konnte den Konflikt im Oktober nicht beilegen. Man einigte sich, bis Ende des Jahres am Leitfaden zu arbeiten.
Für Ahmad T. kommt das zu spät. Es sei »schockierend, dass eine so kaltblütige Abschiebung« nach den Debatten der letzten Monate noch geschehen könne, sagte die Linksabgeordnete Jule Nagel. Sie forderte Grüne und SPD auf, den Innenminister »einzuhegen«. Offen ist, wie vieler Tritte in die »Achillesferse« es dafür noch bedarf.

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