Keine normalen Arbeitsbedingungen

Auf den Intensivstationen in Krankenhäusern herrscht weiterhin Personalnotstand und Überforderung

Überlastung, Dauerstress, kurzfristig geänderte Dienstpläne: Seit Anfang 2021 haben viele Intensivpflegekräfte ihren Job aufgegeben oder die Arbeitszeit verkürzt. Deshalb stehen jetzt 4000 Intensivbetten weniger zur Verfügung als Anfang des Jahres. Auf diesen Notstand machte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) auf ihrem Jahreskongress Ende letzter Woche noch einmal aufmerksam. Die Beschäftigten hatten in der Pandemie nicht wirklich eine Chance, sich nachhaltig zu erholen. Inzwischen ist schon wieder mehr als ein Fünftel der gesamten Intensivbettenkapazität in Deutschland mit Corona-Patienten belegt. Hinzu kommt: »Jetzt, im Herbst und Winter, haben wir wie jedes Jahr besonders viele Schwerkranke.« So beschreibt Divi-Präsident Gernot Marx die Situation. Planbare Eingriffe lassen sich noch verschieben, Unfallopfer und Menschen mit akuten Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder schweren Atemwegserkrankungen werden jedoch nicht abgewiesen.

Wie aber kann der Exodus der Fachkräfte gestoppt werden? »Die Arbeitsbedingungen sind zentral. Sie müssen einfach normalisiert werden, es muss Erholung nach der Arbeit möglich sein, ohne die häufigen Anrufe, dass eingesprungen werden muss, weil jemand krank wurde. Die Verlässlichkeit der Arbeitsplanung ist eine wichtige Forderung«, erläutert Marx, der als Anästhesist und Notfallmediziner am Aachener Universitätsklinikum eine Klinik für Operative Intensivmedizin leitet.

Zustimmung kommt unter anderem von Lothar Ullrich, dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Fachkrankenpflege und Funktionsdienste (DGF). »Bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen kommt es vor allem auf den Pflegeschlüssel an. Aktuell gilt: Eine ITS-Pflegekraft muss tagsüber zwei Kranke versorgen, nachts aber drei.« Verständnis für diesen Unterschied hat Ullrich nicht: »Das ist für mich rätselhaft. Als ob Patienten auf der Intensivstation ab 23 Uhr weniger krank sind.«

Bessere Arbeitsbedingungen sind auch eine von drei Forderungen, die junge Pflegekräfte in Weiterbildung stellen. Ullrich, der in solchen Kursen unterrichtet, hat Teilnehmer selbst befragt. Eine weiere Forderung: Mehr Geld für mehr Verantwortung - denn es könne nicht sein, dass Leute, die sich zwei Jahre berufsbegleitend zur Fachpflegekraft weitergebildet haben, im Monat dann nur 50 Euro mehr bekommen, ärgert sich Pflegepädagoge Ullrich. Außerdem müsse man sich auf die Dienstpläne verlassen können. »Das heißt: Keine Doppelschichten und auch kein ständiges Einspringen an den Wochenenden.«

Andreas Schäfer, Pflegefachleiter am Klinikum Kassel und Divi-Mitglied, verweist auf die Arbeitsteilung auf den Stationen: »Pflegekräfte machen alles: Bestellungen von Material, Transporte, psychologische Betreuung von Patienten und auch mal von Kollegen.« Hier könnte Assistenzpersonal entlasten. Eine solche Umstellung ließe sich schon in einigen Wochen oder Monaten realisieren. Untergeordnete Tätigkeiten wie das Einräumen von Medizinschränken, Reinigung, Desinfektion, die Überprüfung von Geräten oder das Herrichten von Betten sind an die Fachpflegekräfte quasi zurückdelegiert worden, seit Krankenhäuser seit nunmehr fast zwei Jahren alle Ausgaben für Pflegekräfte von den Krankenkassen refinanziert bekommen. Schäfer fordert eindringlich, nicht weiter Pflegekräfte »zu verbrennen«.

So sei der Ausfall durch psychische Erkrankungen gestiegen. Resilienzkonzepte, mit deren Hilfe die psychische und physische Gesundheit und Widerstandskraft gestärkt würden, seien nötig. »Es mussten sich Vereine gründen, weil es in den Kliniken keine geeigneten Anlaufstellen für das Personal gibt«, sagt Schäfer. Es gehe nicht nur um psychosoziale Unterstützung, sondern auch darum, ehemalige Kolleginnen und Kollegen zu motivieren, in den Beruf zurückzukommen.

Wie viele das sein könnten, dazu fehlen verlässliche Zahlen - genau wie darüber, wie viele Menschen mit einer abgeschlossenen Aus- und Weiterbildung für Intensivpflege in Deutschland erwerbsfähig wären. Christian Karagiannidis von der wissenschaftlichen Leitung des Divi-Intensivregisters bedauert, dass es bei der Divi keinen Eintrag dafür gibt. Die Pflegekammer Niedersachsen - im November wegen fehlender Akzeptanz aufgelöst - hatte das zumindest für das eigene Bundesland transparent gemacht und Zahlen zu den einzelnen Teilspezialisierungen erfasst. Laut Karagiannidis haben Umfragen von Fachverbänden ergeben, dass die aktuelle Vorgabe des Pflegeschlüssels mit je zwei beziehungsweise drei zu versorgenden Patienten je Pflegekraft zu 80 Prozent erfüllt werde. Das sei jedoch eine Untergrenze. Die Intensivstationen müssten die Möglichkeit haben, darüber hinauszugehen, auch weil etwa Corona-Patienten deutlich mehr Pflegeaufwand erfordern als andere Kranke.

Ein weiteres Problem für die Pflege in Krankenhäusern ist, dass auch sie vom demografischen Wandel betroffen ist. »Für jede Pflegekraft, die aus Altersgründen aufhört, kommt nur eine ›halbe‹ neue in den Beruf. Wir verlieren sehr erfahrene Kolleginnen und Kollegen«, berichtet Karagiannidis. Er und Schäfer sehen einen sehr naheliegenden Weg zur Personalentlastung: Dieser führt über weniger Intensivbetten insgesamt.

Der Chirurg Felix Walcher, ebenfalls in der Divi organisiert, weist darauf hin, dass schon vor Jahresfrist Empfehlungen an die Politik gegeben wurden, wie das Problem angegangen werden kann: »Von der neuen Bundesregierung muss sofort eine Taskforce von Bund, Ländern, Tarifparteien, der Krankenhausgesellschaft und Klinikträgern gebildet werden. Im 14-Tage-Takt sollten sofort Maßnahmen beauftragt und abgerechnet werden - damit auch in Zukunft zwei Millionen Patienten pro Jahr gut auf den Intensivstationen versorgt werden können«, so Walcher.

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