- Berlin
- Stadtentwicklung
Quartier nach Grünen-Art
Die Marienhöhe ist für die Ökopartei ein Musterbeispiel neuen Städtebaus
Ein bisher außerhalb von Tempelhof-Schöneberg kaum bekanntes Bauprojekt hat es in den rot-grün-roten Koalitionsvertrag auf Landesebene geschafft: Es sind die Marienhöfe der RS GmbH & Co. Immobilien II KG des Ehepaars Katharina und Reinhold Semer. Auf der Fläche des ehemaligen Güterbahnhofs Mariendorf am S-Bahnhof Attilastraße soll ein neues Quartier mit rund 800 Wohnungen entstehen, dazu eine Flüchtlingsunterkunft, soziale Infrastruktur, Büro- und Gewerbeflächen für Handwerksbetriebe. Familie Semer ist vor allem durch die Hellweg-Baumärkte bekannt.
Das seit vier Jahren in Planung befindliche Projekt soll laut Koalitionsvertrag »zügig in die Umsetzung gehen«. Der Part des Senats ist dabei vor allem die Änderung des Flächennutzungsplans. Politisch nicht ganz trivial, denn es ist Linie des Senats, dass Gewerbeflächen - und eine solche ist derzeit das gesamte Areal - nicht umgewidmet werden sollen, um weiterhin genug Land für Handwerk und Industrie vorzuhalten. In der vergangenen Legislatur gab es beispielsweise einen erbitterten Kampf zwischen Stadtentwicklungs- und Wirtschaftsverwaltung um Wohnungsbau auf dem Knorr-Bremse-Areal in Marzahn. Dass es das Bauvorhaben in den Koalitionsvertrag geschafft hat, ist wohl auf das Betreiben der Grünen zurückzuführen. Denn in ihren Augen handelt es sich um ein Vorzeigeprojekt in puncto Nachhaltigkeit.
Die Grünen sind so überzeugt von dem Vorhaben, dass deren Spitzenkandidatin Bettina Jarasch im August einen Wahlkampftermin mit den Bauherren hatte. »Es setzt vieles von dem um, was wir mit dieser Stadt vorhaben und wie wir diese Stadt entwickeln müssen, wenn wir es schaffen wollen, dass diese Stadt zusammenhält«, sagte Jarasch im Sommer.
»Nachhaltigkeit ist mehr als Energiesparen. Wir planen das Quartier als nachhaltigen und sozialen Organismus«, erklärte Architekt Oliver Collignon, der unter anderem den U-Bahnhof Rotes Rathaus entworfen hat. Er berichtete das in einem Café auf der Fläche eines früheren Projekts der Semers, der Neu-Schöneberg genannten Bebauung einstigen Bahngeländes mit fast 300 Wohnungen am S-Bahnhof Yorckstraße. Hier spielten ökologische Kriterien eine große Rolle - so werden 85 Prozent des Wärmebedarfs über einen Wärmetauscher einem vorbeiführenden großen Abwasserkanal entzogen. Weil noch viele auch andere Kriterien wie Nutzungsmix erfüllt wurden, verlieh die Deutsche Gesellschaft für nachhaltiges Bauen dem Projekt die höchste, eine Platin-Zertifizierung. Das soll auch bei den Marienhöfen erreicht werden.
Noch in der Bauphase verkauften die Semers das Vorhaben weiter, wahrscheinlich mit gutem Gewinn. Denn Bahn- oder Gewerbeflächen jenseits von Bürostandorten haben meist Bodenrichtwerte im hohen zweistelligen bis mittleren dreistelligen Euro-Bereich pro Quadratmeter. Nun werden im Berliner Bodenrichtwertatlas 4500 Euro pro Quadratmeter für die Fläche an der Yorckstraße ausgewiesen.
Reinhold Semer hat die Fläche der Marienhöfe an der Attilastraße nach eigenen Angaben 2008 zu einem nicht genannten Preis erworben; der Bodenrichtwert lag damals bei 140 Euro pro Quadratmeter. Für eine vergleichbar dichte Wohnbebauung in der Nähe werden 2021 bis zu 2900 Euro ausgewiesen. Das wollte Semer so nicht stehen lassen. »Die Grundstücke waren nicht preiswert«, erklärte er. Mit »einem gewissen Fundament privater Liquidität« habe er die Flächen mitten in der Finanzkrise gekauft, erst nach einem Dreivierteljahr habe eine Bank die Finanzierungszusage gegeben. »Die privaten Investoren tragen ein großes Risiko, weil sie nicht wissen, ob das Projekt am Ende klappt«, so Semer.
Da ein Bebauungsplan nötig ist, kann der Bezirk Tempelhof-Schöneberg zumindest einen Teil der Wertsteigerung abschöpfen. Zum Beispiel über die Verpflichtung zur Errichtung einer Kita und eines Stadtteilzentrums mit Begegnungs- und Sportflächen. 30 Prozent der Wohnungen werden im geförderten Bereich errichtet, außerdem soll eine Flüchtlingsunterkunft mit 300 Plätzen entstehen. Die erste in Berlin übrigens, die nicht von Landesunternehmen errichtet wird. »Geflüchtete müssen Teil des Quartiers sein und nicht nur irgendwo am Stadtrand im ehemaligen Industriegebiet oder in einem Waldstück sitzen, wo es gar keine Chance gibt, in Berlin anzukommen«, lobte Jarasch das Vorhaben, genauso wie den Punkt, dass die Wärmeversorgung CO2-neutral erfolgen soll.
Besonders stolz ist der damalige Baustadtrat und jetzige Bezirksbürgermeister Jörn Oltmann (Grüne) auf das zehnstöckige Handwerkerhaus, in dem grundbuchlich gesichert vergleichsweise günstige Nettokaltmieten von acht Euro pro Quadratmeter verlangt werden sollen. Vorbild sind die klassischen Gewerbehöfe, per Lastenaufzug sind alle Etagen erreichbar. »Das Handwerkerhaus war nicht meine Idee. Die wurde beim Stadtrat geboren und uns nachdrücklich beigebracht«, sagte Reinhold Semer dazu.
Parkplätze und Autoverkehr soll es fast nur unterirdisch in der großen Tiefgarage geben, neue Wege für Radler und Fußgänger sollen bequeme Anbindungen an den S-Bahnhof und Richtung Norden gen Innenstadt bieten. Im Nordteil der Fläche ist eine neue Grünfläche geplant. »Dieses Gelände ist heute fast zu 100 Prozent versiegelt«, hob Oltmann seinerzeit hervor. »Es muss eine Zusammenarbeit geben mit den privaten Investoren und der Bürgerschaft, weil wir die Kapazitäten und Ressourcen gar nicht haben«, sagte er.
Die Nachbarn sind nicht so begeistert. Die Bürgerinitiative Marienhöhe befürchtet mehr Verkehr und hohen Parkdruck in der engen Röblingstraße. Mitte 2023 sollen die Bauarbeiten auf der 100.000 Quadratmeter großen Fläche starten. »Etwas größer als der Potsdamer Platz« werde das Quartier, hob Bauherr Semer hervor.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.