Als die Steppenraute nicht mehr weiterhalf

Im zentralasiatischen Tadschikistan gilt seit einem halben Jahr die allgemeine Impfpflicht. Zuvor hatte das Land das Covid-19-Virus für besiegt erklärt

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 5 Min.

Corona in Tadschikistan? Unmöglich! »Bei uns wurde diese Krankheit nicht registriert«, behauptete der tadschikische Präsident Emomali Rachmon Anfang des vergangenen Jahres, als in Zentralasien die Fallzahlen explodierten. Warum das Virus ausgerechnet um das ärmste Land des postsowjetischen Raumes einen Bogen machen sollte, erklärte das tadschikische Gesundheitsministerium mit viel Fantasie so: Die muslimischen Landesbewohner wüschen sich vor jedem Gebet die Hände. Nur wenige Ausländer kämen ins Land, die Tadschiken verreisten nicht gern.

Unglaubwürdig? Es geht noch exotischer! Die Steppenraute - ein in Tadschikistan als heilig geltendes Kraut, mit dessen Rauch traditionell Wohnungen und Dienstgebäude geweiht werden - vertreibe zuverlässig jedes Virus, so die Beamten. Auch Galina Perfiljewa, Vertreterin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Tadschikistan, wiegelte ab: Es gebe keine Coronafälle, Händewaschen genüge als Vorsichtsmaßnahme, eine Impfung sei nicht nötig.

Doch es half alles nichts. Zeitungen berichteten über eine rätselhafte Welle von Lungenentzündungen und ersten Toten. Die Leichen würden in mit Chlor desinfizierte Tücher eingewickelt und hastig und heimlich in - für die Region unüblichen - geschlossenen Särgen bestattet, deckte das unabhängige Internetportal »Asia-Plus« auf. In der Hauptstadt Duschanbe machte sich Panik breit. Viele Tadschiken begaben sich auf eigene Initiative in Isolation. Die Preise für angebliche Desinfektionsmittel wie Zitronen und Knoblauch schnellten in die Höhe. Vakzine waren zu diesem Zeitpunkt nicht verfügbar.

Ende April 2020 lenkten die Behörden plötzlich ein - und bestätigten die ersten 15 Corona-Fälle in Tadschikistan. Die Kursänderung kam nur drei Tage vor dem Besuch einer offiziellen Delegation der WHO, die zuvor den Vertrag mit ihrer tadschikischen Länderchefin hatte auslaufen lassen. Innerhalb weniger Wochen wurde Tadschikistan zum traurigen Spitzenreiter bei der Zahl der Corona-Toten in der Region.

Präsident Rachmon ließ nun vorübergehend Schönheitssalons, Friseure und Geschäfte schließen. Schüler und Studenten wurden in vorgezogene Sommerferien geschickt. Pharmaunternehmen und Labore sollten mehr Masken, Schutzausrüstung und Medikamente produzieren, forderte der Präsident. Kritikern klangen die Anweisungen wie Hohn in den Ohren: Tadschikistans Gesundheitswesen gilt als chronisch unterfinanziert, nur sechs Prozent des Staatshaushalts werden für Gesundheit ausgegeben. Unter den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist das Land am wenigsten auf Corona eingestellt. Geld für teure Impfstoffe fehlt.

Emomali Rachmon scherten die Einwände nur wenig. Was der tadschikische Präsident mehr fürchtete: die ökonomischen Einschnitte von Quarantäne-Maßnahmen und deren Folgen für seine Herrschaft. Im Januar 2021 erklärte er Covid-19 daher kurzerhand für überwunden. Seit Jahresbeginn habe es keine Infektionen mehr gegeben. Der Erreger sei »vollständig eliminiert«.

Der Totgesagte hielt sich indes nicht an die Diagnose des Autokraten mit den buschigen Augenbrauen. Das Medienportal »Asia-Plus« berichtete von Ärzten, die weiterhin Infektionen in allen Landesteilen registrierten. Auch in den sozialen Medien tauchten immer mehr Berichte auf, die massive Zweifel an der offiziellen Version weckten.

Keine zwei Monate nach der Siegesmeldung musste das Gesundheitsministerium das Ruder wieder herumreißen. Im März startete ein Programm zur Impfung besonders vulnerabler Gruppen - unter anderem Rentner, Pflegepersonal, Wissenschaftler und Angestellte wirtschaftlicher Schlüsselbranchen. Gespritzt wurden zunächst zwei Vakzine: das chinesische Corona-Vac und das in Indien produzierte Astra-Zeneca. Tadschikistan erhielt beide als Spenden im Rahmen der globalen Impfinitiative Covax.

Die epidemiologische Lage verschlechterte sich trotzdem weiter mit rasender Geschwindigkeit. Die Zahl der Toten wuchs. Schließlich musste Rachmon zugeben, was ohnehin alle wussten: Das Virus war keineswegs besiegt.

Schuld daran sei aber nicht etwa das katastrophale Krisenmanagement, sondern die fahrlässigen Bürger: Diese trügen keine Masken und hielten sich nicht an Hygieneregeln, erklärte Rachmon Anfang Juli - und führte überraschend die allgemeine Impfpflicht für alle Erwachsenen ein! Einzige Ausnahme: Schwangere und stillende Frauen. Neben Tadschikistan gibt es die Pflicht zur Impfung bisher nur in zwei weiteren Staaten: dem Vatikan und Turkmenistan.

»Ich rate auch Ihnen dringend dazu, eine Impfung zu machen«, erklärte Rachmon, als er sich im August medienwirksam impfen ließ - ohne allerdings zu verraten, welchen Impfstoff er sich spritzen ließ. »Mit dieser Krankheit ist nicht zu scherzen.« Die staatliche Nachrichtenagentur Khovar brachte in der Folge eine Erfolgsmeldung nach der anderen: Sämtliche Einwohner der Hauptstadt Duschanbe seien bereits geimpft. 42 Prozent der Tadschiken hätten seit Ende August vollständigen Impfschutz. Zur Verfügung stünden mittlerweile fünf Impfstoffe, die das Land als Spenden erhält: Pfizer, Sputnik V, Astra-Zeneca, Corona-Vac und Moderna.

Was wirklich hinter den Hurra-Meldungen steckt, bleibt fraglich: Weder gibt es unabhängige Zahlen über den Erfolg der Impfkampagne, noch ist bekannt, wie die Pflicht genau umsetzt wird. Zudem veröffentlichten die Behörden seit August keine Zahlen von Toten und Infizierten mehr. Laut den letzten offiziellen Angaben sollen sich seit Pandemiebeginn insgesamt 15 592 Tadschiken mit Corona infiziert haben, 123 seien gestorben. Experten gehen von Tausenden Toten aus.

Beobachter fürchten nun, das Gesundheitsministerium könnte das Virus erneut für besiegt erklären - seit August registrierte es keinen einzigen Coronafall mehr. Die Impfkampagne sei erfolgreich.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!