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Preisträger ohne Krawatte

Dmitri Muratow deckt in der »Nowaja Gazeta« auf, was in Russland schiefläuft

  • Daniel Säwert, Moskau
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Entscheidung kam ziemlich überraschend. Nur wenige hatten damit gerechnet, dass mit Dmitri Muratow in diesem Jahr ein russischer Journalist mit dem Friedensnobelpreis geehrt wird.

Das Komitee habe eine gute Wahl getroffen, befand Muratows früherer Kollege, der Journalist Andrei Kolesnikow. Muratows Auszeichnung sei ein Preis für die Freiheit des Wortes. Zugleich kritisierte Kolesnikow jedoch das norwegische Nobelkomitee und fragte, ob sich dieses denn wirklich mit der Person Muratow auseinandergesetzt habe. Der Grund für die Zweifel: Die Zeichnung, die anlässlich der Preisverleihung von Muratow veröffentlicht wurde, zeigt den Preisträger mit Krawatte. Krawatte und Muratow aber seien zwei Dinge, die einfach nicht zusammenpassten. Das sei wie »Genie und Wahnsinn«, meint Kolesnikow. Muratow sei kein Mensch, der auf solche Äußerlichkeiten Wert legt. Ihm sei seine Arbeit wichtiger als sein Auftreten. Eine Arbeit, mit der er zum Inbegriff des russischen Qualitätsjournalismus wurde.

Geboren wurde Muratow 1961 in Kuibyschew, dem heutigen Samara, während seines Studiums arbeitete er in einer Fabrik. Nach dem Wehrdienst begann Muratow im Jahr 1985 seine journalistische Karriere bei der Lokalzeitung »Wolschskij Komsomolez«. Seine ersten Artikel handelten von eher unverfänglichen Themen wie dem Alltag von Lehrern oder Folklorefestivals.

Doch zwei Jahre darauf wurde man in Moskau bei der »Komsomolskaja Prawda« auf den jungen Journalisten aus Südostrussland aufmerksam - und holte ihn in die Hauptstadt. Schnell stieg Muratow in dem Massenblatt auf. Bis es 1992 schließlich zum Bruch mit der Zeitung kam, nachdem dort Verschwörungstheorien verbreitet worden waren.

Der zupackende Muratow ließ sich davon nicht unterkriegen und gründete mit einer Gruppe gleichgesinnter Journalisten 1993 kurzerhand die »Nowaja Gazeta« (Neue Zeitung), deren Chefredakteur er mit einer kurzen Unterbrechung seit dem Jahr 1995 ist. Der Vorsatz: kein Boulevard. Bei der Zeitung kämen Menschen zusammen, die »jung, aber gleichzeitig altmodisch« seien, erklärte Muratow vor einigen Jahren in einem Radiointerview. Dafür hätten sie aber alle »eine gute Schule durchlaufen«.

Das merkt man der Zeitung bis heute an. Im oft knalligen russischen Nachrichtendschungel genießt die »Nowaja Gazeta« eine Ausnahmestellung. Ihre oft sehr langen und teilweise nur schwer lesbaren Texte wirken ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Aber sie sind das Ergebnis gründlicher Recherche, die zutage befördert, was in Russland und seinen Regionen schiefläuft. Mehr als 60 journalistische Auszeichnungen erhielten die Mitarbeiter der »Nowaja Gazeta« bereits für ihre unermüdliche Arbeit, darunter auch den prestigeträchtigen Pulitzerpreis.

Der Erfolg geht mit einer bitteren Bilanz einher: Vier ermordete Mitarbeiter sind eine traurige Mahnung, dass Journalismus in Russland ein sehr gefährlicher Beruf sein kann. Den getöteten Kollegen und anderen Journalisten, die für ihren Beruf ihr Leben ließen, widme er den Friedensnobelpreis, machte Muratow deutlich. Dass er die Auszeichnung bekomme, liege nur daran, dass er noch am Leben ist. Unermüdlich setzt sich der 60-Jährige für die Pressefreiheit in Russland ein.

Lautstark fordert Muratow ein Ende der öffentlichen Stigmatisierung von Medien und Journalisten als sogenannte ausländische Agenten. Eine höchst aktuelle Forderung: Noch nie wurden so viele Zeitungen und Medien als »Agenten« eingestuft wie in diesem Jahr. Dass Muratows »Nowaja Gazeta« noch nicht als solcher gebrandmarkt wurde, liege nur daran, dass Muratow ein politisches Schwergewicht sei, meinen Beobachter. Zu groß sei der Respekt vor dem gut vernetzten Journalisten, als dass man sich traue, ihn anzufassen.

Im Jahr 2012 machte der mächtige Chef des staatlichen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, die Erfahrung, sich besser nicht mit Muratow anzulegen. Bastrykin hatte den stellvertretenden Chefredakteur Sergei Sokolow in einen Wald entführt und ihm dort mit dem Tod gedroht. Dafür musste er sich persönlich bei Muratow entschuldigen. Für einen Mann in seiner Position die maximale Demütigung.

Immer wieder mischt sich Muratow in die Politik ein. Er protestierte gegen Russlands Politik auf der annektierten Halbinsel Krim und unterstützte die Proteste in Belarus 2020 ebenso wie die Freilassung Alexej Nawalnys. Auch für andere Bedürftige engagiert sich Muratow, wie etwa Kinder mit seltenen Krankheiten, deren Behandlung sehr teuer ist. Ihnen will er einen Teil seines Preisgeldes spenden.

Erst spät erklärte Muratow, dass er den Friedensnobelpreis persönlich entgegennehmen wird. In Oslo angekommen, veröffentlichte er ein Foto mit der Co-Preisträgerin Maria Ressa beim Abendessen. Natürlich ohne Krawatte, die so gar nicht zu ihm passt. Die wird der Vollblutjournalist wohl nur kurz zur Preisverleihung tragen, der Etikette wegen.

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