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»Der Kapitalismus steht am Rande einer Nervenkrise«

Die Politikwissenschaftlerin Albena Azmanova über gesellschaftliche Befindlichkeiten, die Zusammenarbeit aller politischen Kräfte für die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und eine Transformation zur Nachhaltigkeit

  • Marta Moneva
  • Lesedauer: 7 Min.

Ihr Buch »Kapitalismus an der Kippe« wurde bereits dreimal von großen Berufsverbänden der Politikwissenschaftler ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen das?

Es ist erstaunlich, dass ein Buch, das von einem marxistischen Standpunkt aus geschrieben wurde, um marginal zu sein, und das eine so weitreichende Kritik am modernen Kapitalismus übt, von den wichtigsten professionellen politikwissenschaftlichen Organisationen der Welt ausgezeichnet wird. Gleichzeitig ist das ein Zeichen dafür, dass diese Kapitalismuskritik aus dem linken Raum in die Mitte rückt und eine solche öffentliche Bedeutung erlangt. Das Buch zielt auf die Idee ab, dass die Krise des Kapitalismus und unserer Gesellschaften nicht so sehr in der zunehmenden Ungleichheit liegt, sondern in einem allgemeinen Zustand der Unsicherheit. Und diese Unsicherheit muss angegangen werden.

Auf persönlicher Ebene gibt es auch eine gewisse Parallele zwischen meiner Biografie und diesem Buch, das so viel internationale Anerkennung gefunden hat. Als ich mich in meiner Jugend in den Dissidentenbewegungen in Bulgarien engagierte, entschied ich mich dafür, mich selbst zu marginalisieren, was eine gefährliche Position war. Aber gleichzeitig hat die Welle der Protestbewegung gegen den autoritären Sozialismus die Geschichte Bulgariens verändert. Von einer marginalen Position wurde sie zum Mainstream.

Interview

Albena Azmanova ist Professorin für Politikwissenschaft an der Brussels School of International Studies der University of Kent. Sie arbeitet zum Wandel des Kapitalismus und Aufkommen neuer Ideologien, zu sozialen Konflikten, Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Übergängen. Ihr aktuelles Buch erschien in der Edition Konturen unter dem Titel »Kapitalismus an der Kippe. Radikaler Wandel ohne Krise«.

Eine weitere wichtige Kontinuitätslinie zwischen dem aktuellen Preis und meinem intellektuellen Einstieg in dieses Spiel der historischen Analyse in den 1980er Jahren war die Intuition, dass es eine Menge Ähnlichkeiten zwischen Kapitalismus und Sozialismus gibt - eine Idee, die Vaclav Havel damals entwickelt hat. Danach funktionieren in Wirklichkeit sowohl der Kapitalismus als auch der autoritäre Sozialismus nach der Verschleißlogik. Darunter sind der Verschleiß der Natur, des Menschen, der Gesellschaften zu verstehen. Wir müssen nach einer Alternative außerhalb dieses Rahmens, dieses Gefängnisses des Denkens in der Alternative »Kapitalismus oder Sozialismus« suchen. Ich denke, die Zeit für diese Idee ist nun reif.

Was hat dieses Buch notwendig gemacht?

Der Hauptgedanke dieses Buches ist nicht, dass der Kapitalismus in der Krise steckt. Er wird nicht in den Abgrund der Geschichte stürzen, aber er steht am Rande einer Nervenkrise. Die Idee zu diesem Buch geht auf eine Anfrage zurück, die ich 2003 von linken Parteien im Europäischen Parlament erhielt. Damals boomte die Wirtschaft in Europa und im Westen im Allgemeinen. Die Arbeitslosigkeit war niedrig und dennoch verloren die linken Parteien, die an der Macht waren, bei den nationalen Wahlen an Boden und an Macht.

Damals begannen auch die Parteien, die wir heute als populistisch bezeichnen, bei den Wahlen an Zustimmung zu gewinnen. Dieses Paradoxon hat mich dazu gebracht, mich mit der Realität zu beschäftigen - und was ich als logische Erklärung dafür finden konnte, ist, dass die Menschen trotz des Wohlstands begannen, in Angst zu leben, in einem Zustand der Unruhe. Davon betroffen waren nicht nur die Menschen mit befristeten Verträgen und die Geringverdiener, sondern auch diejenigen mit guten Arbeitsplätzen, die in der Angst lebten, ihre Einkommensquellen zu verlieren. Es war eine allgemeine Unruhe und Unsicherheit.

Andere Autoren vor mir haben von dieser Unsicherheit als Unsicherheit der ärmsten Bevölkerung gesprochen, aber ich will sagen, dass dieser Zustand in der Tat alle Schichten der Gesellschaft erfasst hat. Diese Epidemie der Unsicherheit bereitete auch den Boden für die Corona-Pandemie, denn unsere Gesellschaften waren so geschwächt, dass sie nicht in der Lage waren, mit einem Virus fertig zu werden, das weder völlig unbekannt oder überraschend ist noch so schrecklich wie zum Beispiel die Pest.

Wer ist Ihr Adressat? Auf welche politischen Kräfte setzen Sie?

Auf mehrere. Meine These in diesem Buch ist, dass der Zustand universeller Unsicherheit, der mit dem grundlegenden Mechanismus des Kapitalismus - dem konkurrierenden Streben nach Profit - verbunden ist, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte Reiche und Arme, gut Gebildete und weniger Gebildete, Kapitaleigner und Arbeiter miteinander verbindet. Wir haben gesehen, dass etwa unter den Gelbwesten in Frankreich sowohl Arbeiter als auch Kleinunternehmer waren.

Jetzt können sich viele Kräfte vereinen und in eine Richtung gegen die Hauptantriebskraft des Kapitalismus drängen. Mein Adressat sind also alle Parteien, denn die großen Wenden im 20. Jahrhundert, also die Wende vom liberalen Kapitalismus zum Wohlfahrtsstaat und dann die Wende vom Wohlfahrtsstaat zum neoliberalen Kapitalismus, wurden nicht von einer einzigen politischen Kraft vollzogen, sondern in einer Koalition zwischen den beiden wichtigsten politischen Kräften: den Konservativen und den Sozialisten. Um die dringend notwendige politische Wende schnell herbeizuführen, ohne die auch die grüne Transformation nicht gelingen kann, müssen wir also viele politische Kräfte mobilisieren.

Ich wende mich an alle politischen Kräfte, aber ich glaube, dass die linken Parteien und insbesondere die Grünen die Avantgarde dieser Wende bilden sollten. Die Idee des Wirtschaftswachstums und der Umverteilung sollte durch die Idee der wirtschaftlichen Stabilität ersetzt werden. Ich denke, die Menschen würden es akzeptieren, mit weniger materiellen Gütern, aber mit mehr Sicherheit zu leben, weil wir so viele Ressourcen in die Umwelt investieren müssen.

Am 8. November erschien Ihr Bericht »Binding the Guardian«, der von der linken Abgeordneten Clare Daly in Auftrag gegeben wurde und die Jahresberichte der Europäischen Kommission zur Rechtsstaatlichkeit untersucht. Warum war dieser Bericht nötig?

Ich gehe darin auf meine alte Idee von 2017 ein, als die Europäische Kommission Mariano Rajoy dabei unterstützte, die Unruhen im Zusammenhang mit dem katalanischen Unabhängigkeitsreferendum mit Polizeigewalt zu unterdrücken. Die EU-Kommission stellte sich hinter Rajoy und erklärte, er habe ganz im Sinne der Rechtsstaatlichkeit gehandelt. Ich war sehr empört darüber und begann darüber zu schreiben, wie die EU-Kommission die Rechtsstaatlichkeit mit dem anderen Konzept der »Macht durch Recht« gleichsetzt. Dies war ein Symptom dafür, dass die Kommission, anstatt sich gegen die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in Europa zu wehren, in Wirklichkeit Teil dieses Prozesses wird. Deshalb habe ich die Durchführung einer umfassenden Studie vorgeschlagen. Denn um einem allgemeinen autoritären Trend in Europa in den letzten zehn Jahren entgegenzuwirken, hat die Kommission die Verantwortung übernommen, die Situation der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten durch systematische Überwachung und die Veröffentlichung von Jahresberichten für jedes Land aktiver zu beobachten.

Die veröffentlichten Berichte für 2020 und 2021 enthalten Kapitel zu jedem EU-Mitgliedstaat. Die gestellte Frage möchte ich so formulieren: Wendet die Kommission eigentlich ihre eigenen Grundsätze auf sich selbst an, indem sie sich das hehre Ziel setzt, die Rechtsstaatlichkeit in Europa zu wahren? Die Idee an sich ist gut, wird aber sehr schlecht umgesetzt. Wir haben die Situation analysiert und schwerwiegende Verstöße gegen dieses Prinzip festgestellt, die in den Berichten der Kommission nicht erwähnt werden. Dafür kann ich einige Beispiele nennen. Problematisch sind die zunehmende Anwendung von Sicherheitsgesetzen im Schnellverfahren durch Frankreich, der Angriff auf die politischen Freiheiten in Spanien, die Ignoranz gegenüber den engen Verbindungen zwischen dem bulgarischen Staat und der Oligarchenmafia, die unkritische Haltung der Kommission zum Medienmonopol von Silvio Berlusconi in Italien. Völlig außer Acht gelassen wird in den Berichten der Kommission auch der Wirecard-Korruptionsskandal in Deutschland, der grobe Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit ans Licht gebracht hat.

Häufig begnügt sich die EU damit, den Geltungsbereich der Rechtsstaatlichkeit auf eine einfache Frage der Rechtmäßigkeit zu reduzieren. Indem sie die groben und systematischen Verletzungen der Grundrechte und -freiheiten der Bürger verschweigt, wird sie selbst Teil des Problems, das sie zu lösen versucht. Die Rechtsstaatlichkeit wird nicht untergraben, wenn das Gesetz gebrochen wird, sondern wenn das Gesetz ungestraft gebrochen wird. Dies schafft eine Atmosphäre, in der autoritäre Macht gedeiht. Damit trägt die EU-Kommission zur Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in Europa bei. Darauf wollen wir mit diesem Bericht aufmerksam machen.

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