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Der Cringe und das Netz

Was Scham und Identifizierung miteinander zu tun haben - von lebenden Toten in Zeiten der digital verstärkten Vereinzelung

  • Marlon Grohn
  • Lesedauer: 6 Min.

Zombies verstehen sich mit Zombies immer ganz hervorragend, schließlich bekommen sie voneinander nicht mit, dass sie welche sind. Das ist das Betriebsgeheimnis von Social Media, der Gemeinde der Zombies. Als »Geisterstadt« kennt man sie auch im Real Life, nämlich da, wo das Leben der Menschen den Ort verlassen hat und nur noch die Seelen der Verdammten umherspuken. Das beschreibt die sogenannten sozialen Medien treffend, die wohl das Gespenstischste sind, das in der Geschichte der Technologie über die Menschheit gebracht wurde: Social Media ist nicht nur das Abstellgleis für Millionen von Abgehängten, die noch hoffen zu reüssieren, wenn sie nur auffällig genug ihre Alltäglichkeit zur Schau stellen; es ist vor allem ein Automat, der Simulationen erstellt, die wiederum von Automat-Gewordenen als real empfunden werden.

Simulation von Empfindung geht hier mit dem Empfinden simulierter Emotionen einher. Daher auch die weite Verbreitung der inzwischen zur Ideologie geronnenen Empathie - früher Mitleid genannt -, die aus Überidentifikation mit dem fremd gewordenen Anderen resultiert. In Zeiten der Vereinzelung und Fragmentierung wird sie zum Trend in der Seelen-Mode: ob als Prinzip der Dorfhorde (heute als »Bubble« wiederbelebt) oder als Mittel zur Unterstreichung authentischer Empörung im Hashtag-Aktivismus.

Solche Überidentifikation entsteht durch die weitverbreitete Ich-Schwäche, die die bürgerliche Herrschaft benötigt und daher zu produzieren weiß. Wer selbst mutlos geworden ist, will umso mehr am Gemüt der anderen parasitär teilhaben, sich in deren Seelen hineinversetzen, sich mit ihnen identifizieren. Je öfter das Individuum mit sich selbst in seiner Vereinzelung auskommen muss, desto häufiger sind übermäßige Identifikation mit anderen und Fremdscham die Folge - als Ersatz für eigene Lebendigkeit des Herzens.

Dass »Cringe« in solchen Verhältnissen zum Jugendwort des Jahres wurde, ist bei einer Jugend, die vor allem die letzten anderthalb Jahre größtenteils im Internet verbrachte, nicht überraschend: Leben in sozialer Isolation erzeugt die Projektion menschlicher Qualitäten auf toten Dreck wie das Internet. Den so Lebenden erscheint das Wohnen im sozialen Medium als eine Art Therapie ihrer Gemütsverfassung, deren Reproduktion sie in Wahrheit ist.

Wo die reale physische Präsenz in der Welt abhandengekommen ist, bringt es umso mehr Scham und Fremdscham mit sich, wenn man überhaupt mal wieder unter Menschen kommt: »Shaming« wie Cringe sind daher schon länger eine Tendenz bei Jugendlichen bis Anfang 40. Anlässe für das Schämen bietet die Pubertät als Zeit der Hypertrophierung des Über-Ichs zuhauf: Was man sagt, wie man sich bewegt, was man tut, wie man sich kleidet - all dies wird selbstkritisch beäugt. Wo Ich sein sollte, ist Über-Ich und also Cringe. »Mir ist es ja bereits peinlich, wenn ich vor die Tür gehe«, befand mal ein junger Literat. Niemand will der cringy Außenseiter sein, nicht einmal in einer Gruppe alternativer Außenseiter, in der das Anderssein Vorschrift ist und Independent-Konformität nach sich zieht.

So erklärt sich der Uniformitätsdrang der Jugendlichen, die in ihrer äußerlichen Angleichung einfach nur die Sehnsucht nach Unauffälligkeit - der anderen Seite der Scham - in der Konkurrenzgesellschaft ausdrücken: Wer nicht auffällt, muss sich nicht schämen, für kein Anderssein rechtfertigen. Er verschwindet in der Masse oder eben in den Parallelmilieus des Internets.

Bisher hat man sich eigentlich nur vor Leuten geschämt, denen man nahestand. Der Internet-Cringer nun schämt sich - das ist das Neuartige - vor der ganzen Welt und verleiht damit einer Entwicklung Ausdruck, deren Symptom die sozialen Netzwerke darstellen: das Erodieren der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem. Weil sich aber ständig selbst geschämt wird, müssen auch die anderen entweder »geshamed« oder »geblamed« werden. Das ist die Hauptbeschäftigung der pubertierenden Jugend - der Schmerz, den sie im Gefühl der Peinlichkeit erfahren und dessen Vermeidung immer auch ein Ausweichen vor Erkenntnis ist, also vor dem Erwachsenwerden, soll auf andere übertragen werden. Dabei lässt sich dann schnell vergessen, dass nicht alle ihre Minderwertigkeitskomplexe teilen und es dem gewöhnlichen Menschen ob seiner Gewöhnlichkeit recht egal ist, was man so über ihn denkt.

In der Cringe-Kultur hingegen wird Peinlichkeitsempfinden zum Imperativ und gleichzeitig zum Mittel, sich Aufmerksamkeit unter jenen zu verschaffen, die auch ständig von allem angeekelt, überfordert, verletzt zu sein vorgeben. Den meisten ist das »Geshamed-« oder »Geblamed-Werden« einfach nur Anlass für Reklame in eigener Sache. Wer sich einmal zum Affen gemacht hat, bekommt überall Zucker angeboten.

Der Imperialismus in seiner aktuellen Phase hat eine Bewusstseinshaltung hervorgebracht, die wohl zuletzt zu Beginn des 19. Jahrhunderts dieses Ausmaß erreichte, als die deutsche Romantik ihr Unwesen trieb. Die sich vor allem im Internet auslebenden Seelen können die Welt und die Menschen nicht mehr anders betrachten oder kritisieren als dadurch, dass sie sofort eine sich identifizierende Position einnehmen. Im Zeitalter des Übermaßes an Identifikation mangels substanziellem, tätigem, also wirklichem eigenen Sein, hat Cringe-Empathie die Solidarität ersetzt.

Man versetzt sich ständig in andere hinein, obwohl man gar nicht wissen kann, was in ihnen vorgeht. So muss man deren Äußerungen Glauben schenken, die aber - in der Öffentlichkeit stets, erst recht aber in sozialen Medien - Inszenierungen sind. Aus dem ständigen Sich-Hineinversetzen der Ich-Schwachen in stärkere Ichs entsteht dann der Identifikationswahn: Er soll Abhilfe schaffen, indem das Ich seinen Mangel im Prinzip der Identität, der Blaupause des Lebens anderer findet. Es ist klar, dass sich diese anderen, zu Idolen Erhöhten, nicht verhalten, wie es die sich Identifizierenden wünschen - schließlich sind sie echte, eigenständige, also in sich widersprüchliche Personen und keine Voodoo-Puppen. Die Enttäuschung darüber wiederum muss sich Bahn brechen; daher das Gecancel und Geshame und Gecringe.

Zudem zeigt der Schauer, der beim Cringe ja physisch empfunden wird, inwieweit der eigene Körper wieder in die scheinbare Körperlosigkeit des Internets gebracht wird: Der Körper lässt sich - das kennt man von Zombies - nicht einfach abschalten, er meldet sich, wenn ihn etwas stört, etwa das Totsein. Im Netz aber wähnt man sich körperlos, geht online, um den Körper zu vergessen. Dass sich dieser nun qua Cringe zurückmeldet, sollte zu denken geben: Der Leib ersteht auf und meldet Cringe-Signale an den im Grab Liegenden: den User.

Man sollte das allerdings nicht auf die Inhalte im Netz beziehen. Der Körper cringt so oder so ständig vor sich hin. Der Cringe also sagt mehr über den jeweiligen User-Körper und dessen Seele, als über das, worüber sich da so fremdgeschämt wird. Die Anlässe des Schämens sind zufällig. Der Körper des Zombies wehrt sich gegen seine geistige Leblosigkeit - das ist die Funktion des Cringes.

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