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Eine ansteigende Melodie des Bösen
»Krabat« ist wieder da: Otfried Preußlers Zauberlehrling ist auch nach 50 Jahren lesenswert wie eh und je
Als Krabat am Morgen erwacht, ist der Schreck groß: Elf weiße Gespenster schauen ihn an. Wo ist er? Wer sind die Gestalten? Was macht er in dieser Kammer? Otfried Preußlers großer Märchenroman über den Müllerknappen aus der Gegend um Hoyerswerda, dessen Figur tief in der Lausitzer und Niederlausitzer Sagenwelt verwurzelt ist, beginnt mit der Ankunft des jungen Burschen in der Mühle am Koselbruch.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Langsam beginnt er sich zu erinnern. Ein Traum hatte ihn hierhergeführt. Wie einem unentrinnbaren Sog war er diesem trotz aller Warnungen gefolgt und hatte schließlich den unheimlichen, verwunschenen, todbringenden Ort erreicht, an dem sich sein Schicksal erfüllen sollte. Bis dahin würden allerdings noch drei Jahre vergehen - Jahre voller ungeheuerlicher Erfahrungen und Erlebnisse.
Zwölf Müllergesellen schuften in der Schwarzkollmer Mühle unter der Fuchtel ihres einäugigen Meisters. Der ist, wie sich schnell herausstellt, nicht nur Fachmann für das Zerkleinern von Getreide, sondern in erster Linie ein Lehrer der schwarzen Magie. Jeden Freitag verwandelt er seine Müllerburschen in Raben und bringt ihnen Zaubersprüche bei. In Krabats erster Lektion berührt er ihn mit der linken Hand an der linken Schulter, und schon geht’s los. Krabat spürt, wie ihn ein Schauder durchrieselt und er zu schrumpfen anfängt. Sein Leib wird kleiner und kleiner, es wachsen ihm Rabenfedern, Schnabel und Krallen. Ungelenk fliegt er zu seinen Mitvögeln auf die Stange und krallt sich dort ängstlich fest … An diesem Tag erlernen die zwölf die Kunst, einen Brunnen versiegen zu lassen. Wichtiges Hexenmeisterwissen, versteht sich.
So vergeht für den neuen Burschen in der Mühle am Koselbruch Tag um Tag mit schwerer Arbeit, aber auch dem Gewinn wahrhafter Freundschaften und dem Aufkeimen der ersten zarten Liebe. Umso schrecklicher ist der Tod der besten Gefährten - und die langsam reifende Erkenntnis, wer daran schuld sein könnte und wen es wohl beim nächsten Mal treffen wird. Aus harmloser Zauberei wird plötzlich eine Sache von Leben und Tod.
Krabat will fliehen, doch alle Versuche scheitern an den außerirdischen Fähigkeiten des schwarzen Meisters. Inzwischen hat Krabat verstanden, dass es nur einen Weg gibt, dieses böse Wesen zu stoppen: Er muss es überlisten und mit seinen eigenen Zauberwaffen besiegen; er muss Gaukelei und Magie besser beherrschen als irgendjemand auf dieser Welt. Nun wissen wir aus vielen Märchen, wie die Guten mit Fleiß, Intelligenz, Charme und Herzenswärme die Bösen besiegen. So gelingt es am Ende auch Krabat, den gefährlichen Müller zu überwinden.
Dabei hilft ihm die Liebe seiner Kantorka, jenes Bauernmädchens, zu dem er sich wegen ihres Gesanges - wie es der Name schon sagt - hingezogen fühlt. Doch ehe es nach über 250 Seiten so weit ist, werden alle Register der Zauberei gezogen. Da erheben sich ganze Kutschen mit ihren Reisenden in die Lüfte, da verwandeln sich Menschen in Kühe, Mäuse oder Vögel. Da kann der böse Müller die Gedanken seiner Burschen lesen, da werden Soldaten wie einst Dornröschen in einen tiefen Schlaf versetzt, da treten Mühlknappen aus ihrem Körper heraus, und in Stücke zerschlagene Särge setzen sich blitzartig wieder selbst zusammen.
Otfried Preußler versetzt seine Leserschaft in einen ähnlichen Sog wie den Haupthelden mit seinem Traum von der Mühle. So wie Krabat diesem Weg einfach folgen muss, wird das Buch weiterlesen müssen, wer einmal damit angefangen hat. Das macht zum einen die Wucht der Handlung, aber zum anderen auch die Sprache des Autors. Die folgt einer ansteigenden Melodie, die einen trotz einfacher Worte immer stärker in den Bann zieht, je öfter man umblättert. Zum Glück hat der Autor seine Wortkunst in über 30 Werken verewigt. Wie könnten unsere Kinder und wir ohne den »Räuber Hotzenplotz«, »Die kleine Hexe« oder »Das kleine Gespenst« überhaupt weiterleben?
Selbst aus der Nähe der Gegend stammend, in der die Krabat’sche Sagenwelt ihren Ursprung hat, trifft Preußler genau den richtigen Ton, wenn er uns davon kundtut. Er hat sich über ein Jahrzehnt lang damit beschäftigt, ehe sein Krabat 1971 erscheint. Preußlers Vater, ein Lehrer mit großem Interesse für das historische Umfeld, sowie seine Großmutter Dora, eine begnadete Erzählerin, dürften ihren Anteil daran haben, welche Entwicklung der Schriftsteller nahm, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückgekehrt war und sich im bayerischen Rosenheim niederließ. 1956 erschien sein erstes Buch, »Der kleine Wassermann«. Es ist bekannt, wie alle seine Bücher. Keines jedoch dürfte die Popularität »Krabats« auch nur annähernd erreicht haben.
»Ein Meisterwerk«, schreibt der Literat und FAZ-Redakteur Tilman Spreckelsen im Nachwort zur Jubiläumsausgabe anlässlich des 50. Erscheinungsjahres, »für das der Autor vielfach ausgezeichnet worden ist, das zweimal verfilmt und längst zur Schullektüre geworden ist.« Der schwarze Einband mit silberner Schrift und einem riesigen Raben auf dem Schutzumschlag macht dem teuflischen Werk alle Ehre; die Buchstaben sind auch für Leseanfänger groß genug, die Seiten lassen sich gut umblättern.
Übrigens hat Preußler zahlreiche Quellen und Berichte über den sorbischen »Faust«, wie Krabat auch genannt wurde, studiert. Darunter auch den vom bekannten sorbischen Dichter Jurij Brězan ins Deutsche übersetzten Roman »Meister Krabat« von Martin Nowak-Neumann, der 1954 in der DDR erschienen war. Jurij Brězan selbst hat auch Zeit seines Lebens an diesem Thema festgehalten. Er schrieb 1968 »Die schwarze Mühle«, 1976 folgte »Krabat oder Die Verwandlung der Welt« und schließlich 1994 »Krabat oder Die Bewahrung der Welt«, in der erste Wende-Erfahrungen verarbeitet sind und die Gebrechen der Marktwirtschaft mit ihrer ökologischen Verwüstung im Mittelpunkt stehen.
Preußler, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs junger Offizier war, empfand »Krabat« als »Roman meiner Generation«, mit dem er zeigen wollte, dass man gegen die Diktatur auch »Nein« sagen konnte. Brězan war gegen die Nazis in einer sorbischen Widerstandsgruppe aktiv und kam dafür ins Gefängnis. Er starb 2006, Preußler 2013.
Krabat allerdings lebt und lebt und lebt, wie es sich für eine zaubermächtige Sagengestalt gehört. Zwischen dem Spreewald und Teilen der Lausitz finden sich zahlreiche Restaurants, Cafés und andere Einrichtungen, die Krabats Namen tragen und auf die eine oder andere Weise von dessen Bekanntheit profitieren möchten. Mittendrin die Teufelsmühle in Schwarzkollm, die heute längst nicht mehr ein so gruseliger Ort ist wie zu Krabats Zeiten kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg. Liebevoll wurde sie wieder aufgebaut, Mauerwerk an einem anderen Platz extra dafür abgetragen. Seit einigen Jahren gibt es hier Krabat-Festspiele mit Hunderten Darstellern und freiwilligen Helfern, anderswo Krabat-Feste wie im sächsischen Wittichenau.
Doch auch der böse Müller scheint nach wie vor seine Hände im Spiel zu haben, denn wie kann es sonst sein, dass Krabats Auftritt auch in diesem Sommer wieder abgesagt werden musste? Was ist das für ein Spuk? Alle Hoffnungen in Schwarzkollm und im Haus des Müllers am Koselbach, wo man auf der Speisekarte leider vergeblich nach einem typischen Krabat-Essen wie vielleicht Mehlsuppe sucht, liegen nun auf 2022.
Otfried Preußler: Krabat. Thienemann-Verlag, 272 S., geb., 16 €.
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