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»Fortschritt, Fortschritt, Fortschritt«
Olaf Scholz’ Regierungserklärung ist durchzogen von Versprechungen, aber auch seltsamen Worthülsen
Für oberflächliche Betrachter mochte Olaf Scholz am Mittwochmorgen seltsam unentschlossen gewirkt haben. Soeben hatte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Sitzung eröffnet und die Regierungserklärung des Bundeskanzlers angekündigt, die Fraktionen der Ampel-Koalition hatten artig applaudiert – doch Scholz zögerte. Er verharrte zunächst auf seinem Platz auf der Regierungsbank, anstatt den kurzen Weg zum Rednerpult zu beschreiten. Stille, ein kurzer Moment der Verwirrung im Saal.
Doch natürlich traf den neuen SPD-Regierungschef, seit genau einer Woche im Amt, keinerlei Schuld an dieser etwas misslungene Inszenierung. Vielmehr wusste er, dass die Abgeordneten zu früh geklatscht hatten und Bas ihnen ein entscheidendes Detail schuldig geblieben war: die Dauer der Debatte. »Kurze Übung«, sagte sie, die das zweithöchste Staatsamt nach der Bundestagswahl von Wolfgang Schäuble übernommen hatte – und kündigte dann, nachdem alle Formalitäten zweifelsfrei geklärt waren, die Regierungserklärung erneut an: »Jetzt«, betonte sie, habe Scholz das Wort. Und der ergriff es.
Gemäßigter Fortschritt der Ampel-Koalition: Aert van Riel über Olaf Scholz und seine Regierungserklärung
Scholz übertüncht sein Erscheinungsbild
Es war nur ein klitzekleiner Fauxpas, doch zugleich der überraschendste Moment dieses ersten Kanzler-Auftritts. In seiner fast 90-minütigen Regierungserklärung blieb sich das Perpetuum mobile der deutschen Politik treu und arbeitete sich wie eine einmal aufgezogene Maschine mit gleichbleibendem Rhythmus, ohne Glanz und Gloria, durch die ohnehin bekannten Begriffe seiner Regierungspolitik. »Bei der Bundestagswahl am 26. September hat sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes für Aufbruch und Fortschritt entschieden«, begann er, dröge und spröde, ohne Begeisterung darüber zu versprühen.
Man erkannte: Scholz’ »Aufbruch« ist keiner, der seinem bloßen Naturell erwächst, der wortlos spürbar wäre – vielmehr sucht der Kanzler durch ständige, fast schon ermüdende Wiederholungen ebenjener Begrifflichkeiten sein eher karges Erscheinungsbild zumindest rhetorisch zu übertünchen. So hat er die Bundestagswahl gewonnen, und so setzte er diese Strategie auch am Mittwoch im Bundestag fort – man hätte Strichlisten führen können: Die Bundesregierung sei eine »Fortschrittsregierung«, eine Regierung des »technischen Fortschritts«, des »sozialen Fortschritts«, des »gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritts«. Scholz beschwor »die Kraft und die Möglichkeit des Fortschritts« und konkludierte, man hätte es nicht anders erwarten können: »Wir bauchen nicht weniger Fortschritt, sondern mehr Fortschritt. Besseren Fortschritt, klugen Fortschritt.«
Wohl wandte er sich mit einigen persönlichen Worten an die von der nunmehr fast zwei Jahre andauernden Corona-Pandemie geplagte Bevölkerung: Niemandem gehe es richtig gut in diesen Zeiten, »mir nicht, Ihnen nicht«. Doch auch an dieser Stelle ließ sich Scholz nicht zu besonderer Emotionalität hinreißen, sondern ging sogleich wieder zur Sachlichkeit über – und bekräftigte das Ziel, 30 Millionen Impfungen bis zum Jahresende durchzuführen. Dass er auch »Kanzler der Ungeimpften« sei, wie er jüngst in einem Gespräch mit einem bekannten Boulevardmedium zu Protokoll gegeben hatte, wiederholte er nicht im Wortlaut – allerdings nahm er, ohne den Namen der Zeitung zu nennen, direkten Bezug darauf: Natürlich sei die Regierung auch eine »derjenigen, die noch Zweifel haben oder ganz einfach noch nicht dazu gekommen sind, sich impfen zu lassen«. Zuvor hatte er sich klar von den zumeist von Rechtsextremisten organisierten und durchsetzten Corona-Demos distanziert: »Wir werden es uns nicht gefallen lassen, dass eine winzige Minderheit von enthemmten Extremisten versucht, der gesamten Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen.« Da applaudierte auch die demokratische Opposition aus CDU und Linken.
Überhaupt waren seine Ausführungen ein Berg an Versprechungen, ganz abgesehen von Corona: Scholz kündigte ein »Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen« an – neue Wohnungen, Schienenwege, Ladesäulen, Offshore-Windparks, Photovoltaik-Anlagen und Stromnetze. Der Wirtschaft versprach er »Superabschreibungen« in den Jahren 2022 und 2023 bei Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung sowie Steuervorteile für junge und innovative Unternehmen – er wolle Deutschland zum führenden Standort für Start-ups machen, sagte Scholz. Um den angespannten Wohnungsmarkt zu entlasten, wolle er zudem 400.000 Wohnungen pro Jahr bauen, darunter 100.000 öffentlich geförderte. Viel Zustimmung auch von den Linken erhielt er, als er die Abschaffung des Paragrafen 219 – also des Verbots, über ärztliche Möglichkeiten von Schwangerschaftsabbrüchen zu informieren – ankündigte.
Diese vermeintliche Gegensätzlichkeit – auf der einen Seite der angekündigte »Fortschritt«, auf der anderen dieser fast schon langweilige Vortrag und die ständigen Wiederholungen des Kanzlers – war dann auch für die Opposition eine willkommene Gelegenheit, einzuhaken. »Ich erwarte von einem Bundeskanzler in der ersten Regierungserklärung nicht, dass er kleinteilig den Koalitionsvertrag referiert, sondern ich erwarte, dass er die großen Linien zeigt«, erwiderte CDU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus: »Fortschritt und Zukunft braucht Begeisterung. Diese Begeisterung habe ich in den letzten 90 Minuten nicht gesehen.«
Linke sieht Lindner auf dem »Buch-Cover«
Für die beiden demokratischen Oppositionsparteien war diese Bundestagssitzung derweil eine Chance, von ihren andauernden internen Konflikten – jüngst etwa bei der Linken über die Entscheidung, Klaus Ernst zum Vorsitzenden des Klimaausschusses zu wählen – einmal abzusehen und sich ganz auf den politischen Gegner zu fokussieren. Wenig überraschend konzentrierte sich Linke-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali auf die Finanzpolitik der Ampel-Koalition und kritisierte diese als unsozial: »Dass einfache und mittlere Einkommen entlastet werden, davon ist keine Rede mehr«, sagt sie angesichts eines Wahlkampfes von SPD und Grünen, in dem ebensolche Entlastungen versprochen worden waren. Jedoch konnten sich die beiden Parteien dann in den Koalitionsverhandlungen nicht gegen die FDP durchsetzen, was Mohamed Ali zur Bildsprache verleitete: Wenn die von Kanzler Olaf Scholz gepriesene soziale Gerechtigkeit ein Buch wäre, wäre es »ein Buch mit leeren Seiten, mit einem lachenden Christian Lindner auf der Titelseite«.
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