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Ganz Afghanistan hungert
Laut einer Hilfsorganisation erlebt das Land die weltweit größte humanitäre Krise
Fast jede Afghanin und jeder Afghane leidet Hunger. Eine Telefonumfrage des Welternährungsprogramms (WFP) ergab, dass 98 Prozent aller Bewohner eigenen Angaben zufolge über zu wenig Nahrung verfügen. Dies sei ein Anstieg um 17 Prozentpunkte im Vergleich zum August, teilten die Vereinten Nationen am Dienstag in New York mit. Das WFP warnte, dass »eine Spirale von Wirtschaftskrise, Konflikten und Dürre dazu geführt hat, dass eine durchschnittliche Familie jetzt kaum noch mit der Lage fertig wird«.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Afghanistan leidet unter einer der schwersten Dürren der zwei vergangenen Jahrzehnte. Mit der Machtübernahme der islamistischen Taliban Mitte August wurden zudem der Großteil der Hilfen für das Land eingestellt und Reserven der Zentralbank des Landes eingefroren. Die bereits zuvor angeschlagene Wirtschaft befindet sich seither im freien Fall. Früheren UN-Angaben zufolge hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht ausreichend zu essen.
Der Vize-Ministerpräsident der afghanischen Übergangsregierung, Mullah Abdul Ghani Baradar, hat am Dienstag das Ausland scharf dafür kritisiert, dass es angesichts der wirtschaftlichen Probleme Afghanistans zum Einfrieren von Bankguthaben durch die USA schweige, berichtete die Nachrichten-Webseite »Tolo News«. »Unsere einzige Forderung ist, dass sich die USA gegenüber dem afghanischen Volk und der afghanischen Regierung genauso verhalten, wie sie es gegenüber der ganzen Welt tun«, sagte Baradar zu Reportern in Kabul.
Besonders hart trifft es die Kinder. Schon vor einigen Tagen warnte der Vorsitzende des UN-Kinderhilfswerk Unicef in Deutschland, Georg Graf Waldersee, vor einem Kollaps der Gesundheitszentren und Krankenhäuser: »Wir befürchten, dass in den kommenden Monaten über eine Million Kinder in Afghanistan an Mangelernährung und Krankheiten sterben könnten, wenn sie keine Hilfe erhalten.« In der vergangenen Woche hat die Weltbank Hilfsgelder in Höhe von 280 Millionen Dollar für Afghanistan freigegeben, davon 100 Millionen Dollar an Unicef für medizinische Leistungen sowie 180 Millionen Dollar an das WFP.
Afghanistan bricht einen traurigen Rekord: erster Platz auf der Liste der 20 weltweit größten humanitären Krisen. Das sagt die Hilfsorganisation International Rescue Committees (IRC), die am Mittwoch in Berlin ihren Bericht »Emergency Watchlist 2022« vorstellte. Vielen Afghan*innen gehe das Geld aus, die Preise für Lebensmittel oder Medikamente stiegen. Der Direktor der Organisation, David Miliband, sprach von einer schockierenden Rekordzahl von Menschen, die weltweit in humanitärer Not seien.
Die Nachrichten über die humanitäre Katastrophe überschatten fast ebenso dramatische Fakten, die Amnesty International zu gravierenden Menschenrechtsvergehen zusammengetragen hat: Demnach haben die Taliban während ihrer Machtübernahme in Afghanistan schwere Kriegsverbrechen begangen. Zugleich seien auch bei Angriffen der afghanischen Streitkräfte und des US-Militärs Menschen getötet worden, erklärte die stellvertretende Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty, Julia Duchrow, am Mittwoch anlässlich der Veröffentlichung eines Berichts in Berlin. »Durch alle drei Konfliktparteien - Taliban, afghanische Streitkräfte und US-Militär - kamen Zivilistinnen und Zivilisten zu Tode«. Der Internationale Strafgerichtshof müsse möglichen Kriegsverbrechen aller Parteien nachgehen.
Amnesty International wirft den Taliban vor, während ihres Vormarsches die Angehörigen ethnischer und religiöser Minderheiten sowie afghanische Soldaten gefoltert und getötet zu haben. Das gesamte Ausmaß der Tötungen sei schwer zu erfassen, weil die Taliban in vielen ländlichen Gebieten den Mobilfunk unterbrochen und den Internetzugang stark eingeschränkt hätten. Duchrow sprach von einem »unglaublichen Blutvergießen durch die Taliban«.
Auch die US-Truppen und die afghanische Armee sind laut Amnesty International für den Tod von Zivilist*innen verantwortlich. So dokumentiert der Bericht vier Luftangriffe zwischen 2017 und 2021 in dicht besiedelten Gebieten, bei denen 28 Menschen getötet wurden, darunter acht Kinder. Drei der Luftangriffe seien höchstwahrscheinlich von den USA und einer von der afghanischen Luftwaffe geflogen worden. Für den Bericht recherchierten die Menschenrechtler nach eigenen Angaben in Kabul und sprachen mit Betroffenen und Zeugen. Zudem wertete die Organisation Satellitenbilder, Videos und Fotos aus. Mit Agenturen
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