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Afghanische Exilanten: In Sicherheit, doch selten geborgen
Die afghanische Community gibt vor zu wissen, was für die Menschen vor Ort am besten ist. Doch genau das ist ein Problem, meint Zara Momand.
Deutschland beherbergt die größte afghanische Diaspora-Gemeinde Europas. Sie wird von politischen, religiösen und sozialen Unterschieden geprägt, gespalten, aber auch geeint. Die jeweiligen sozialen Einflüsse bestimmen die Unterschiede: Davon, wann und unter welchen Umständen jemand Afghanistan verlassen hat, hängt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Bewertung der aktuellen Entwicklungen ab. Zwischen Religiosität, Kommunismus, Mudschaheddin, Taliban und Besatzungsmächten bleibt viel Raum für Konflikte.
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Seit August ist viel passiert: Bündnisse wurden gebildet, demonstriert, offene Briefe verfasst, Spendenaktionen organisiert, Luftbrücken unterstützt. Afghan*innen aus aller Welt nutzen ihre Social-Media-Kanäle, um Bewusstsein für die katastrophale Situation in Afghanistan zu schaffen und sich miteinander zu vernetzen. Das Spektrum an Meinungen zur aktuellen Lage ist vielfältig und reicht von Positionen, die mit den westlichen Einsätzen sympathisieren über eine grundsätzliche Verurteilung dieser bis hin zu Taliban-Befürworter*innen. Und alle meinen zu wissen, was für das Volk vor Ort am besten ist.
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Dabei schauen wir – unabhängig von unserer politischen Gesinnung – immer aus einer privilegierten Perspektive auf die Menschen dort und sind oftmals geleitet von einer Art Rettersyndrom und Traumatisierung. Ein auf mehreren Ebenen belastetes Volk, das über verschiedene Kontinente hinaus gemeinsames Leid empfindet, scheitert immer wieder an genau jenen Verletzungen, die es nicht zu heilen vermag. Wer ihm welche Verletzungen zugefügt hat und wie es über diese hinwegkommen kann, kann wohl niemand so richtig beantworten.
Die afghanische Diaspora trifft seit spätestens 9/11 im Westen auf Misstrauen und fehlendes Verständnis. Einst bloß ein Volk im Globalen Süden, das durch Invasionen und Kriege geschwächt war, wurde es plötzlich zum Erzfeind der schönen neuen Welt. Von heute auf morgen standen wir unter Generalverdacht. Unser politisches Bewusstsein ist dadurch geprägt, dass wir immer wieder in die Täterrolle gedrängt werden, selten ist die Berichterstattung in den Medien auf unserer Seite. Während wir das Leid unserer Familien aus Geschichten und oftmals auch aus eigenen Erfahrungen kennen, leben wir hier ein anderes Leben: in Sicherheit, doch selten geborgen. Afghanische Identitäten und Realitäten wurden in den vergangenen Jahrzehnten kaum beachtet. Wir fallen mit unseren Haltungen oft auf und gelten als »Verschwörungstheoretiker*innen«, wenn es um Weltpolitik geht, weil wir die westlichen Militäreinsätze nicht glorifizieren, sondern die Geschehnisse und Motive hinter den Kulissen beleuchten. Weil wir uns fragen, was der Krieg, der Hunderttausende das Leben kostete, zum Ziel hatte, wenn der lang ersehnte Frieden ausbleibt. Weil wir vermeintliche Helden nicht immer als solche sehen, sondern das große Ganze hinterfragen und wissen, dass sogenannte Opfer nicht selten Täter sind.
Informationen über orientierungslose Einsätze, Kriegsverbrechen und Drohnenskandale sind der breiten Masse mittlerweile leicht zugänglich. Interesse, Empathie und wirkliches Verständnis jedoch fehlen häufig. Gerade in besonders stürmischen Zeiten, die das bereits sowohl physisch als auch ideologisch zertrümmerte Land heimsuchen, scheint uns niemand sonst das Einfühlungsvermögen entgegenbringen zu können, auf das wir bei afghanisch-stämmigen Personen zählen dürfen. »So nah und doch so fern«, heißt es so schön. Was können wir tun, während wir hier sind? Die Community findet sich zusammen und trifft sich im Aktivismus. Verschiedenste Persönlichkeiten in der Diaspora begegnen einander und wandeln Frustration in Stimmen um, die im Chor ertönen. Dieser Chor ist lauter als je zuvor, und wir nehmen uns endlich den Raum, der uns zusteht.
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