»Die große Mobilisierung der Bevölkerung war und ist entscheidend«

Die Feministin Marisol Berríos über den Wahlkampf für Gabriel Boric und die großen Erwartungen an seine Regierung

  • Ute Löhning
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie waren stark engagiert in der Wahlkampagne für Gabriel Boric. Wie sah eure Arbeit aus - und welchen Einfluss hatte sie?

Wir sind in Santiago von Tür zu Tür gegangen und haben Informationsmaterial verteilt. Ein großer Teil von Ñuñoa ist ein Bezirk der gehobenen Mittelschicht, aber Richtung Süden gibt es sehr prekäre Siedlungen wie Exzequiel González Cortés, Salvador Ocrugana, Rebecca Matte y la Villa Olímpica. Dort ist die Wahlbeteiligung üblicherweise niedriger, und dort greift auch die Propaganda der Rechten, die Angst vor dem angeblichen Kommunismus schürt.

Viele Menschen waren sehr unentschieden, wie sie wählen sollten, aber mit ihnen müssen wir das Gespräch suchen. Sie sind die Basis der Revolte von 2019, und wir müssen gerade für diese Menschen in besonders prekären Bedingungen ein System aufbauen, das die universellen Rechte garantiert.

Marisol Berríos
Marisol Berríos (61) arbeitet in einer feministischen Nachbarschaftsinitiative in Santiago de Chile. Sie machte Wahlkampf für Gabriel Boric trotz gewisser Differenzen.

Ist Ihnen nach Feiern zumute?

Auf jeden Fall. Ich freue mich sehr und sehe mich als Teil dieses Erfolgs. Ich gehöre zwar nicht mehr zur Frente Amplio, und ich kritisiere Boric, zum Beispiel weil er das »Abkommen für den Frieden und eine Neue Verfassung« - sogar ohne Absprache mit der Partei - im November 2019 unterschrieben hat, und auch wegen seiner indirekten Beteiligung an Repressionsgesetzen gegen die Revolte. Aber in diesem Moment 2021 mussten wir Großmut zeigen und diese Fragen zurückstellen, damit sich der Faschismus in Chile nicht wieder etablieren konnte. Denn das Risiko war sehr sehr groß.

Es gibt eine demokratische Rechte, ich will nicht die Rechte als Ganzes stigmatisieren. Aber Kast verkörpert die Reorganisation des Pinochetismus, einer faschistischen Rechten. Sein Diskurs ist voller Hass auf uns Frauen, die wir eine so starke Bewegung aufgebaut haben, und auf LGBTQ-Personen. In Chile gibt es auch heute Gewalt gegen diese Gruppen. Mit einer so rechten Regierung wären sie noch größeren Gefahren ausgesetzt gewesen.

Ihr Vater Lincoyán Berríos wurde 1976 verhaftet und ist einer der über 1000 Verschwundenen der Diktatur unter Augusto Pinochet. Kast erklärt öffentlich seine Nähe zu Militärs, die wegen Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt sind. Was bedeutet es für Sie, das zu hören?

Es bedeutet, die Straflosigkeit nochmals zu erleben. Nicht das Verschwindenlassen meines Vaters, aber die Straflosigkeit, der große Verantwortung dafür zukommt, dass der Pinochetismus wieder erstarken kann. Solange die Geschichte nicht aufgeklärt ist, keine historische Wahrheit existiert, können diese Gruppen und Tendenzen wieder erstarken.

Wie werden Sie sich, wie wird sich die Asamblea Feminista gegenüber einer Regierung von Gabriel Boric verhalten?

Das ist komplex. Einerseits müssen wir diese Regierung unterstützen und alles dafür geben, drängende Probleme zu lösen und neue Wege zu öffnen. Aber unsere Unterstützung ist nicht bedingungslos. Sie hindert uns nicht daran, wenn nötig, auch Kritik zu äußern. Das Kriterium für unsere Unterstützung ist, dass das politische Programm umgesetzt wird.

Wo erwarten Sie Schwierigkeiten?

In der Zeit der Revolte 2019 haben wir gehofft und erwartet, dass das neoliberale Modell abgelöst wird. Das wird, glaube ich, nicht so einfach möglich sein. Dennoch denke ich, dass wir Dinge umsetzen können, die ins Herz dieses Systems zielen, die die Garantie sozialer Rechte für alle bedeuten und sich zugunsten der Arbeiter*innen und Schwachen auswirken werden.

Dabei sehe ich vor allem drei Dinge: Wir brauchen eine Umstrukturierung des Rentensystems, des Gesundheitssystems und des Bereichs der Pflege und Betreuung. Alle Menschen sollen einen garantierten Anspruch auf Zugang zu diesen Systemen haben. Im Bereich der Alten- und Krankenpflege und der Betreuung von Kindern sind es bis heute meist Frauen, die diese Arbeit ohne ausreichende Anerkennung und oft ohne Bezahlung leisten. Diese Aufgaben müssen gesellschaftlich anerkannt werden, und der Staat muss hier mehr Verantwortung übernehmen.

Denken Sie, dass das möglich ist, obwohl die Linke im Senat und in der Abgeordnetenkammer keine klare Mehrheit hat?

Es wird sicher schwierig. Die Erwartungen sind höher als das, was wir umsetzen können. Aber ich sehe, dass alles, was wir bisher erreicht haben, nur durch die große Mobilisierung der Bevölkerung möglich war. Also sollten wir diesen Weg auch weitergehen. Wenn wir es schaffen, das Bewusstsein und die Mobilisierung der Bevölkerung zu stärken, werden wir damit hoffentlich unsere Themen setzen und ausreichend Druck auf die Regierung und das Parlament aufbauen. Das zumindest liegt in unserer Verantwortung.

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