Ein gutes Rezept gegen Russophobie

Warum Regula Heusser-Markun die Sowjetunion das Atlantis des 20. Jahrhunderts nannte

  • Jutta Grieser
  • Lesedauer: 4 Min.

Atlantis ging unter. Seit Ewigkeiten geistert die Legende vom versunkenen Eiland durch die Geschichte. Atlantis ist Mythos und Synonym für eine reiche und mächtige Kultur, die plötzlich und unerwartet unterging. Regula Heusser-Markun aus Zürich nannte ihr Buch nicht ohne Hintersinn »Die Sowjetunion. Atlantis des 20. Jahrhunderts«. Im Unterschied zum unbekannten Atlantis jedoch existierte die Sowjetunion real, und außer dem Untergang - der keineswegs plötzlich und unerwartet vor nunmehr 30 Jahren erfolgte - gab es keine weitere Gemeinsamkeit. Die aber ist erheblich.

So macht es also durchaus Sinn, dass die Texte der Schweizer Autorin - in den 80er Jahren unter dem Titel »Unbekannter Nachbar Sowjetunion« publiziert - jetzt neuerlich, und ohne ein Wort zu ändern, erschienen sind. Es sind zeitgeschichtliche Zeugnisse aus einer nicht mehr existenten Welt. Die Städte, die die seinerzeitige Redakteurin der »Neuen Zürcher Zeitung« damals besuchte und beschrieb, sehen heute anders aus. Die Menschen, denen sie begegnete, leben vermutlich nicht mehr oder inzwischen ganz anders. Und nicht zu vergessen: Fast jeder zweite heutige Europäer hat keine eigene Erinnerung an das sieben Jahrzehnte existierende Sowjetreich, weil er oder sie noch nicht geboren oder zu jung war, als sich die UdSSR aus der Weltgeschichte verabschiedete.

Auch für unsereinen, die wir die Sowjetunion kannten, sie bereisten, mit ihren Bewohnern berufliche oder freundschaftliche Kontakte unterhielten, ist dieser Bild-Text-Band nicht nur aus nostalgischen Gründen interessant. Es ist die Perspektive: Regula Heusser-Markun kam aus dem Westen, war gänzlich frei von den Erfahrungen, die die Ostdeutschen und die Osteuropäer mit der Führungsmacht des östlichen Bündnisses machten. Sie hatte Slawistik und Osteuropa-Geschichte in Zürich studiert und näherte sich unvoreingenommen dem Land, das so ganz anders war als die überschaubare Schweiz. Und nicht nur deshalb, weil sich dessen Territorium über elf Zeitzonen erstreckte, immerhin ein Sechstel der Erde.

Sie näherte sich Land und Leuten mit offenem, zugleich kritischem Blick wie andere Forschungsreisende vor ihr auch. Nicht ganz so wie der französische Marquis de Custine, der zehn Jahre nach Alexander von Humboldt - der war 1829 für sieben Monate dort gewesen - das Land entdeckte. Für ihn war es das »merkwürdigste Land« der Welt, in dem man »tiefste Barbarei neben der höchsten Civilisation findet, welche durch die Regierung aus dem Auslande gleichsam wie eine Ware eingeführt wurde«. Schon eher urteilte die Schweizerin wie Joseph Roth, der als Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution tiefschürfend analysierte: »Die russische Revolution ist nicht etwa eine proletarische, wie ihre Repräsentanten meinen, sie ist eine bürgerliche. Russland war ein feudales Land. Es fängt an, ein urbanes, ein stadtkulturelles, ein bürgerliches zu werden.« Wie andere aufmerksame Beobachter sah Roth die UdSSR auf dem Weg nach USA. »Man verachtet ›Amerika‹, das heißt den seelenlosengroßen Kapitalismus, das Land, in dem Gott Gold ist. Aber man bewundert ›Amerika‹, das heißt den Fortschritt, das elektrische Bügeleisen, die Hygiene und die Wasserleitung. Man will die vollkommene Produktionstechnik. Aber die unmittelbare Folge dieser Bestrebungen ist eine unbewusste Anpassung an das geistige Amerika. Und das ist die geistige Leere.« Kein Irrtum: Das stammt von 1927.

Die aufmerksame Reisende aus Zürich, nicht unbedingt im dialektischen und historischen Materialismus geschult, konstatiert nur, sucht nicht unbedingt nach politischen oder gesellschaftlichen Gründen, warum es so ist, wie es ist. »Im Alltag fällt auf Schritt und Tritt auf, wie wenig das tatsächliche Gesicht der Sowjetunion mit dem offiziellen deckungsgleich ist.« In kaum einem anderen Land sei »die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität der Lebensgestaltung so krass«, notiert sie 1984. »So steht dem an den Schulen gelehrten wissenschaftlichen Atheismus nicht nur eine tief im Volk verwurzelte Religiosität, sondern auch eine wachsende Zahl an mystischen und irrationalen Strömungen gegenüber.« Feststellungen wie diese überraschen weniger wegen ihrer Gültigkeit, sondern wegen des Zeitpunktes, zu dem sie gettoffen wurden. Jetzt wissen wir es auch und räumen dies ein. Doch damals?

So ist denn der auf sehr gutem Papier gedruckte Bild-Text-Band von Regula Heusser-Markun auch eine Elle, an der wir unsere Urteile von einst messen können. In erster Linie aber wirkt ihr Buch angesichts der allgegenwärtigen Russophobie fast noch spektakulärer als 1984, in der Zeit der Blockkonfrontation. Das offenbart, dass der neue Kalte Krieg sich kaum vom alten Kalten Krieg unterscheidet. Warum also sollte man nicht wie damals Brücken der Verständigung über die Schützengräben schlagen?

Regula Heusser-Markun: Die Sowjetunion. Atlantis des 20. Jahrhunderts. Ein Bild-Text-Lesebuch von 1984. Verlag am Park in der Edition Ost, 256 S., geb., zahlr. Abb., 20 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!