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- Obdachlosigkeit
Weil jeder Mensch wertvoll ist
Für Nicole Lindner und Stephen Doebert bedeutet ein Dach über dem Kopf zu haben, Glück - und ein Grundrecht. Dafür sind sie aktiv, auch politisch
Eine schmale Lichterkette schimmert durch das zarte Tannengrün auf der Balkonbrüstung im Hochparterre. Dahinter stehen Nicole Lindner und Stephen Doebert »Willkommen. Das hier ist unser kleines Zuhause, das wir uns geschaffen haben. Hier können wir sein, so wie wir sind«, sagt Nicole Lindner und zeigt stolz ihr bescheidenes Heim. Ein Zimmer zum Wohnen, Schlafen und zum Arbeiten. Eingerichtet mit Schrankwand, Couchtisch, Sessel, Sofa und zwei Liegen für die Nacht. Ein CD Regal hält Rock und Pop Musik bereit. In der Ecke ein Computerschreibtisch. Eine kleine Kammer vis-à-vis dient als Lager für zahlreiche Aktenordner, Plakate und Aufsteller.
Für Nicole Lindner und ihrem Lebensgefährten bedeutet ein Dach über dem Kopf zu haben, Glück - und ein Grundrecht. Und genau dafür wollen sie eintreten. Meist sind die beiden auf Achse, ständig unterwegs auf den Straßen Berlins. Besonders jetzt in dieser heimeligen Zeit, wo Lichterglanz und Kerzenschein hinter den Fenstern erstrahlen und gleichzeitig Menschen in der Kälte ums Überleben kämpfen, gehen Nicole Lindner und Stephen Doebert auf sie zu.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Eine Einkaufspassage inmitten von Berlin. Am Rand sitzen ein paar Männer in abgerissener Kleidung. In der Gruppe eine Frau, die zwei bepackte Plastetüten in den Händen trägt. Nicole Lindner und Stephen Doebert setzen sich zu ihnen auf die kalten Steinplatten. Lindner holt Café vom Kiosk. »Man muss die Augen öffnen und tiefer schauen, um zu erkennen, dass die, die nix haben, nicht unbedingt selbst daran schuld sind. Dadurch, dass wir ihnen einfach nur zuhören, tauchen wir in ihre Lebenswelt und erfahren, wer dieser Mensch ist«, sagt Doebert. Der Gas-Wasser-Installateur habe dadurch viele seiner Vorurteile verloren. »Das sind keine «Penner», keine «faulen Leute», kein «Abschaum», betont er. «Sie, die sonst nicht gesehen werden, freuen sich, dass wir ihnen in die Augen schauen, ihnen ein Lächeln, ein gutes Wort schenken.» Kleine Gesten könnten viel bewirken, so Stephen Doeberts Erfahrung. Das habe nichts mit Sozialromantik zu tun.
Das Paar trifft die Menschen nicht nur auf der Straße. Manche würden in Massenunterkünften leben. Viele wechseln von einer Kältehilfe zur nächsten. Wir sind so etwas wie Vermittler oder eine Art Vernetzer. Zeigen den Menschen neue Möglichkeiten und Perspektiven auf, geben ihnen Tipps, wo sie Rechtsberatung, ein warmes Essen, Kleidung, ein Bett, eine warme Dusche bekommen. So können wir sie auch an Initiativen vermitteln, die Zwangsräumungen zu verhindern versuchen, sie durch den Berliner Ämterdschungel navigieren oder auch mal zum Arzt begleiten, so dass sie nicht das Gefühl haben, mit ihrem Schicksal allein zu sein.« Die meisten der Obdachlosen seien sehr anspruchslos, haben bescheidene Wünsche: ein warmes Essen, ein sicherer Schlafplatz, vielleicht eine ausrangierte Polizeiweste mit Leuchtsignalklebern oder einen Schlafsack.
Wahrgenommen werden
Nicole Lindner nutzt mit ihrem Partner die Advents- und Weihnachtstage intensiv dazu, die nächste Mahnwache vom Bündnis gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen und für eine Beschlagnahme von spekulativem, bezugsfertigem Leerstand vorzubereiten. Es wird die 4. Mahnwache sein, die jeden Winter vor dem Roten Rathaus stattfindet. Die Zeit drängt.
An ihrem Computer entwirft Nicole ihre Rede, die sie auf der Kundgebung halten wird. Sie entwirft Losungen, die sie dann auf Plakate schreibt und bemalt. Sie stellt Anträge an die zuständige Versammlungsbehörde, an den Polizeipräsidenten, das Ordnungsamt. Telefoniert mit der Berliner Obdachlosenhilfe und vielen weiteren Hilfsorganisationen und Verbänden, die sich wieder zusammenschließen werden.
Ob Mahnwochen oder Demonstrationen, Nicole Lindner beschwört Straßenpassanten, Solidarität zu üben. Politiker ruft sie auf, Zwangsräumungen zu verhindern, leer stehende Räume in der Stadt zu öffnen und die Räumung sozialer Projekte zu verhindern. Menschen mit und ohne Wohnung informiert sie über den unbegreiflichen Wohnungsleerstand und über Hilfsprogramme verschiedener stadtpolitischer Initiativen und Bündnisse.
Stephen Doebert, der früher schüchtern und zurückhaltend war, wirbt prominente Künstler, Sänger und Bands für ehrenamtliche Auftritte. Menschen ohne festen Wohnsitz oder obdachlose Menschen bittet er um Ordnerdienste. Das stärke ihr Selbstvertrauen, meint er. »Es wird jedes Jahr zur Weihnachtszeit immer nur improvisiert, um obdachlose Menschen durch den Winter zu bringen«, beklagt Stephen Doebert. Die Kältehilfe und all die Weihnachtsveranstaltungen seien gut, aber nur ein Pflästerchen. Für ihn und seine Lebensgefährtin gehe es darum, gegen den »Mietenwahnsinn« aufzustehen und »Leerstand zu Wohnraum« einzufordern, wie es die Berliner Mietergemeinschaft einklagt. Tausende Zwangsräumungen würden jährlich angeordnet, sodass Tausende Berlinerinnen und Berliner ohne Wohnung oder Obdach dastünden. Dazu die stetig steigenden Mieten bei gleichzeitigem Wohnungsleerstand. »Da dürfen wir nicht müde werden, immer wieder an die einfachen Menschenrechte zu appellieren«, sagt Stephen Doebert entschlossen. »Niemand sollte Angst haben, seine Wohnung zu verlieren. Wir fordern Rechte statt weihnachtliche Almosen.«
Beeinflusst in seinem Engagement hätten ihn die Science-Fiction Filme »Raumschiff Enterprise«. »Die haben mich tief beeindruckt und geprägt, weil darin alle miteinander gerecht und respektvoll umgegangen sind. Es gab kein Kapitalstreben, keinen Rassismus, keine Diskriminierung«, schwärmt er. Seine soziale Ader stamme auch von seinem Glauben. Nächstenliebe sei für ihn kein leeres Wort. Wir sollten es alle eigentlich jeden Tag einlösen, sagt er. »Da pfeif ich auf alles Geld der Welt, wenn ich für Momente in glückliche Augen schauen kann«, sagt Stephen Doebert und wird etwas nachdenklich. »Das wahre Christliche wurde mir aber von meinem Elternhaus ans Herz gelegt. Deshalb möchte ich den Ärmsten der Armen, den Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, vermitteln: sie sind wertvolle und würdig.«
Nicole Lindner und Stephen Doebert können den Menschen auf der Straße keine materiellen Werte schenken, da sie selbst nicht viel besitzen. Zwei, die sich ihrer eigenen seelischen Not gestellt haben. Stephen Doebert wuchs behütet auf. Ein sensibles Kind, ängstlich, still, mit leiser Stimme. Schicksalsschläge in der Familie und die spätere Trennung von seiner Frau warfen ihn aus der Bahn, hinein in eine schwere Depression. In der Psychiatrie fand er wieder Boden unter den Füßen und lernte Nicole kennen.
Rechte statt Almosen
Nicole Lindner zündet sich eine Zigarette an, geht auf den Balkon, nimmt einen Zug, drückt sie aus und kommt wieder ins warme Zimmer. Das Kind einer alkoholabhängigen Mutter hatte an Weihnachten immer nur den einen Gedanken: »Wie viel wird Mama heute wohl getrunken haben. Die Alkoholsucht machte auch am Heiligen Abend keine Ausnahme. Ich war auf mich allein gestellt und musste früh selbstständig werden.« Die Tochter war es, die sich um die Mutter kümmerte, konnte diese sich doch kaum um sich selbst kümmern.
Als er 18 war, wurde bei Lindner ein Hirntumor diagnostiziert. »Ich musste oft ins Krankenhaus. Das gefiel mir. Denn dort hat man sich um mich gekümmert. Das war ein ungewohntes Gefühl, das ich bis dahin nicht kannte.« Auch die Mutter habe an einer Tumorerkrankung gelitten und sich bis zum Endstadium in den Alkohol geflüchtet, berichtet Lindner. Sie war 21 als die Mutter starb. Völlig überfordert und geschwächt, besaß sie kaum noch Lebenskraft. Mehrere Therapien folgten. »Stephen und seine Familie gaben mir Halt und Lebensmut«, sagt die heute 44-Jährige. Dankbarkeit ist der Motor für ihr Engagement. Seit Jahren sehe sie, dass die Schere zwischen wirtschaftlich armen und reichen immer größer wird und immer mehr obdachlose Menschen auf der Straße leben müssen. »Solange ich lebe, will ich etwas bewirken.«
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