Europas größtes Versagen

Weihnachten 1996 ertranken mehr als 280 Geflüchtete im Mittelmeer. Seither starben an dieser Außengrenze der EU mehr als 50 000 weitere Menschen

  • Heiko Kauffmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Dies ist die Geschichte des politischen Versagens Europas und seiner Politiker. Es ist gleichzeitig die Geschichte enttäuschter Hoffnungen, nicht eingelöster Versprechen - und eine Geschichte, die anknüpft an die Flucht- und Weihnachtsbotschaft der Heiligen Familie im Stall von Bethlehem. Heutzutage suchten Maria und Josef frierend und hungernd in den Wäldern des polnischen Grenzgebiets eine Herberge oder brächten ihr Kind, auf der Flucht vor dem kindermordenden Herodes, in einem seeuntüchtigen Holzboot zur Welt. Christus würde heute als »Illegaler« zur Welt kommen; die Heilige Familie fände kein Asyl in Deutschland und Europa und würde abgeschoben oder ins Exil getrieben.

Dass heute alle sechs Stunden ein Mensch im Mittelmeer ertrinkt, dass die EU und nationale Regierungen wegsehen, wenn Hilfe und Aufnahme suchende Flüchtlinge an den Rändern Europas erfrieren und ins Elend gestoßen werden, zeigt die Missachtung und Geringschätzung des Lebens und der Menschenwürde Tausender - Kinder, Frauen, Männer - durch verantwortliche Akteure im Europa des Jahres 2021.

Der Autor
Heiko Kauffmann ist Pädagoge und Sozialwissenschaftler. Von 1994 bis 2002 war er Sprecher der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, die er auch mitgründete. Er ist Mitglied im Beirat der National Coalition Deutschland zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention.

Es war in der Nacht vom ersten auf den zweiten Weihnachtstag, am 26. Dezember 1996, als im Mittelmeer über 280 Menschen - vor allem Geflüchtete aus Sri Lanka, Indien und Pakistan - nach einer Kollision zweier Schiffe ertranken. Zu dem Unglück kam es, als die Flüchtlinge bei schwerem Seegang gezwungen wurden, über Strickleitern von einem honduranischen Frachter in ein maltesisches Schifferboot umzusteigen, das sie, zu Weihnachten möglichst unbemerkt, auf Sizilien absetzen sollte. Medien und Politik wollten von diesem Unglück damals nichts wissen: Zeitungen brachten, wenn überhaupt, nur eine kleine Randnotiz; Politiker sprachen von einem »angeblichen« Untergang und von einem »Geisterschiff«.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl erfuhr davon durch das Schicksal eines jungen Tamilen, der vermutlich bei der Haverie ums Leben kam. Er hatte zuvor verzweifelt versucht, zu seiner asylrechtlich anerkannten Familie nach München zu kommen, nachdem ihn die deutschen Behörden jahrelang hingehalten und eine Familienzusammenführung verhindert hatten. Die Familie, die anwaltlich von einem Pro-Asyl-Mitglied vertreten wurde, wusste, dass er sich »auf den Weg« gemacht hatte; sie erwartete den Sohn in den Tagen um die Weihnachtszeit. Er blieb für immer verschollen. Nach dem Flüchtlingsdrama forderte Pro Asyl die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und des Europaparlaments auf, Untersuchungsausschüsse zu seiner Aufklärung einzurichten und sich mit »den Folgen der rigiden und inhumanen europäischen Abschottungspolitik« auseinanderzusetzen. Wie sich Jahre später durch Untersuchungen herausstellte, handelte es sich bei der Katastrophe auch um das größte Schiffsunglück Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Laut dem Projekt »The Migrants Files« sind von der Jahrtausendwende bis 2013 23 000 Menschen bei dem Versuch gestorben, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Von 2014 bis 2020 erhöhte sich diese Zahl um weitere 20 000 Menschen, elend ertrunkene Kinder, Frauen, Männer. In den 25 Jahren seit dem verheerenden Schiffsunglück zu Weihnachten 1996 sind mehr als 50 000 Menschen bei dem Versuch gestorben, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Nicht mitgerechnet sind all jene, die schon auf dem Weg zum Mittelmeer auf lebensgefährlichen Fluchtrouten durch die Sahara und die nigrische Wüste starben und deren Zahl nach Schätzungen der Organisation für Migration noch höher ist als die der Toten im Mittelmeer.

Die Dramen und Tragödien, die sich seit einem Vierteljahrhundert an Europas Küsten und in seinen Grenzregionen abspielen, sind eine humanitäre, politische und moralische Bankrotterklärung der Politik der sich »demokratisch« nennenden Staaten Europas und eine Schande für die zivilisierte Welt. Seit 25 Jahren appellieren Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, Wissenschaftler, Kirchen, Friedensbewegung, Sozialverbände und viele andere Institutionen der demokratischen Zivilgesellschaft an die deutsche und an die europäische Politik, dem Sterben ein Ende zu bereiten, ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Seenotrettung nachzukommen und endlich legale Fluchtwege zu schaffen. Doch das tausendfache Sterben vor den Toren Europas hat bisher weder die EU-Verantwortlichen in Brüssel noch die Regierungen der einzelnen Staaten veranlasst, ihr repressives, kaltherziges und erbarmungsloses Abwehr- und Abschottungsregime gegen Flüchtlinge aufzugeben.

Bei neuen Unglücks- und Todesfällen vernehmen wir neben einer inzwischen gebetsmühlenartig vorgetragenen Betroffenheitsrhetorik immer wieder den Hinweis auf und die »Forderung« nach einer »gemeinsamen europäischen Lösung«. Tatsächliches Ergebnis der »gemeinsamen europäischen Lösung« nach einem Vierteljahrhundert sind über 50 000 Tote im Mittelmeer, Tausende von verletzten, traumatisierten, für ihr Leben gebrochenen Menschen. Es sind die Elendslager an den Rändern Europas, Zäune und Stacheldraht, martialische Bollwerke - eine Festungsarchitektur, die, auf die Spitze getrieben, den »Eisernen Vorhang« und die früheren Mauern dereinst in den Schatten stellen könnte. Es ist die Zusammenarbeit mit und die finanzielle Unterstützung von Warlords, zwielichtigen Oligarchen, kriminellen Milizen, Küstenwachen und »demokratischen« Populisten zwecks Abwehr und Zurückweisung von Geflüchteten. Es sind ungesetzliche und völkerrechtswidrige Pushbacks wie in Griechenland, Kroatien oder derzeit an der Grenze zwischen Belarus und Polen: Menschen sterben, Kinder hungern und erfrieren, Hilfsorganisationen erhalten keinen Zugang zu den Geflüchteten, Journalist*innen dürfen ihre Not nicht dokumentieren. Dass die EU-Kommission das unerbittliche, skandalöse Vorgehen Polens im Grenzgebiet gegenüber Flüchtlingen und Hilfsorganisationen hinnimmt und damit quasi für rechtens erklärt, ist ein offener Bruch von Menschenrechtsstandards. Dieses Verhalten zerstört das Fundament des viel beschworenen »gemeinsamen europäischen Werte-Konsens«: Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.

Was sind die Menschenrechte wert, wenn die Diskrepanz zwischen den verbürgten und verheißenen Rechten und der Realität immer größer wird? Heinrich Böll nannte das vergangene 20. Jahrhundert »das Jahrhundert der Flüchtlinge«. Heute müssen die Zivilgesellschaft und die demokratische Öffentlichkeit ihre ganze Kraft der Mitmenschlichkeit, der Integration und Solidarität darauf richten zu verhindern, dass das 21. Jahrhundert zum »Jahrhundert der Ausgrenzung und der Kriege gegen Flüchtlinge« wird.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.