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Pillen per Post für die Selbstbestimmung
Die neue Front im Kampf um Abtreibung in den USA ist der Medikamentenversand
Der Kampf um das Recht auf Abtreibung in den USA tritt in eine neue Phase ein. Die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) sieht eine Krise, seit das Oberste Gericht in den letzten Monaten dem Bundesstaat Texas immer wieder erlaubt, mit einem faktischen Abtreibungsverbot eigene Wege zu gehen. Joe Biden zeigte sich entsetzt und seine Regierung steuerte gegen: Seit letzter Woche gibt die US-Medikamentenbehörde FDA das Abtreibungsmedikament Mifepriston weitgehend frei. So können Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft vor der zehnten Woche beenden wollen, das Mittel bekommen, um diese selbstständig abzubrechen.
Vor der FDA-Entscheidung gab es eine schrille Aktion vor dem Obersten Gericht: Aktivistinnen wie Kristin Mink vom » Center for Popular Democracy Action« schluckten vor Fernsehkameras Pillen, die nach eigener Auskunft echtes Mifepriston waren, obwohl sie nicht schwanger waren. Damit wollten die Aktivistinnen zeigen, wie harmlos das Medikament sei. Prompt kam die Retourkutsche von konservativen Gruppen wie »Susan B. Anthony’s List«: Die Abtreibungsbefürworter wollten ihrer Ansicht nach lebensgefährliche Medikamente »wie Bonbons« im ganzen Land verteilen.
»Wenn sich Abtreibungsgegner vor Gericht durchsetzen können, dann sind Frauen gefährdet, sie sterben allzu oft. Aber dann flammen die Gegenkräfte wieder gewaltig auf«, zeigt sich Dr. Beverly Winikoff gegenüber »nd« optimistisch. Sie leitet die Fraueninitiative Gynuity Health Projects in New York. Dort und in Kalifornien bauen die Bundesstaaten mit viel Geld eine neue Infrastruktur auf, um Frauen zu unterstützen, die eine Schwangerschaft beenden wollen. Die Abtreibung per Pille stellt im Vergleich zu herkömmlichen Methoden auch eine Verbilligung für den Staat dar. Betroffen sind vor allem Arme: 49 Prozent der Abtreibungen betreffen Frauen unter der Armutsgrenze. Ebenfalls 49 Prozent werden durch das staatliche Programm »Medicaid« bezahlt.
Es ist paradox: Die Medikamente, die in den letzten Jahren in den USA immer häufiger angewendet wurden, haben den Kampf um die Abtreibungsrechte aus den alten Bahnen geworfen. Bisher ging es immer um das Gespenst der verzweifelten Abtreibungen in Nebenstraßen oder finsteren Hinterhöfen. Abtreibungsgegner demonstrierten vor Kliniken. Doch die Technologie überholt die alten Fronten. Sollten die konservativen Kräfte im Jahr 2022 vor dem Obersten Gericht siegen, dann könnte das Recht auf Abtreibung für Frauen in manchen Bundesstaaten endgültig passé sein.
Seit der Entscheidung Roe vs. Wade im Jahr 1973 hat jede Frau in den USA ein Recht auf Abtreibung. Doch auch wenn Feministinnen vor der Rückkehr zu den Hinterhof-Abtreibungen warnen, sieht die Wirklichkeit heute anders aus. Abtreibungen sind mit 900.000 im Jahr ohnehin seltener, verglichen mit noch fast zwei Millionen 1980. In jenem Jahr wurde Mifepriston im französischen Pharmalabor Roussel Uclaf (RU) entwickelt, und zwar gegen den Widerstand der deutschen Hoechst AG, die RU im Jahr 1974 gekauft hatte. Heute werden in den USA bereits 40 Prozent der Abbrüche durch Pillen bewirkt. Die Mittel sind sicher genug, dass die FDA nun die weitgehende Freigabe ermöglicht.
Bisher war das Medikament das einzige von den rund 20.000 Medikamenten, die die Aufsichtsbehörde reguliert, das nur in Gegenwart eines Arztes eingenommen werden durfte. Dies fällt nun weg, das Medikament kann auch mittels telemedizinischer Beratung verschrieben werden. Doch Abtreibungsbefürworter kritisieren, dass jetzt noch nur besonders zertifizierte Ärzte verschreiben dürfen und keineswegs alle Hausärzte. Einen echten Grund dafür gibt es offenbar nicht: In etwa einem Prozent der Fälle gibt es schwerer wiegende, aber behandelbare Nebenwirkungen.
Schon jetzt ist die Verschreibung von Mifepriston und ähnlichen Pillen in 12 Bundesstaaten im Süden und Mittleren Westen eingeschränkt oder verboten. In 16 anderen wird eine neue Gesetzgebung eingeführt. In 19 Staaten ist das Verschreiben von Mifepriston durch telemedizinische Beratung verboten. Dabei wird es nicht bleiben.
Mit dem neuen Jahr beginnt der Backlash. Schon jetzt werden konservative Politiker für das Wahljahr 2022 auf ihre Haltung in dieser Frage geprüft. In Bundesstaaten wie Texas und Mississippi ohnehin, weil sie Vorreiter gegen Abtreibungsrechte sind. Dort und anderswo wird überlegt, wie man die Postverschickung der Medikamente am besten unter Strafe stellen kann. Kristan Hawkins von der christlichen Gruppe Students for Life of America will ein Ende der »chemischen Abtreibung«, wie sie dem Nachrichtenportal »Politico« erklärte. Die Gruppe lobbyiert in 30 Bundesstaaten für scharfe Restriktionen gegen die Pillen. Aktivistinnen für Abtreibungsrechte wie die Professorin Abigail Aiken in Austin wiederum befürchten, das diese Einschränkungen, aber auch die Aura der Illegalität, viele Frauen einschüchtern.
Die neue Asymmetrie verschärft den Konflikt. Einerseits haben die Konservativen beinahe die Hoheit über das Oberste Gericht erworben. In manchen Regionen der USA gibt es für Frauen abseits der – dort ebenfalls kriminalisierten Abtreibungspillen – kaum eine Möglichkeit, eine Abtreibung vorzunehmen oder eine entsprechende Klinik ohne lange Fahrzeiten zu erreichen. In Mississippi gibt es nur eine Abtreibungsklinik für den gesamten Bundesstaat. Und in Texas können sich die Anbieter von Abtreibungen kaum juristisch verteidigen. Das Oberste Gericht hat der Texas-ACLU das Recht abgesprochen, Beamte in Texas in Abtreibungsfragen zu verklagen. Ein Sprecher der ACLU Houston erklärt gegenüber »nd«, was das faktisch heißt: Man selbst dürfe nicht den Staat verklagen, aber private Bürger in Texas dürfen mit Klagen gegen Abtreibungskliniken und Ärzte das Abtreibungsverbot durchsetzen. Sogar einstweilige Verfügungen gegen die Durchführung von bestimmten Abtreibungen können Bürger erwirken. Das im September verschärfte Abtreibungsrecht beinhaltet auch ein Kopfgeldsystem: Kläger können 10.000 Dollar Prämien für die erfolgreiche Verhinderung einer Abtreibung erhalten.
Aber die Gegenseite mobilisiert auch. Aktivistinnen wie Elisa Wells, Mitbegründerin der »Plan C«-Website, oder Leah Coplon im Bundesstaat Maine machen sich dafür stark, in größerem Stil die Pillen diskret per Post zu vertreiben. Die bessere Verfügbarkeit der Medikamente wird nun die Entscheidung zur Abtreibung noch stärker in private Räume verlagern. »Die Pillen sind klein: Viele Menschen werden sich trotz Restriktionen und einer Situation, die alles andere als optimal ist, das beschaffen, was sie brauchen«, sagt Dr. Beverly Winikoff. Sie bezweifelt die Effektivität der rechten Kampagne. Die Jura-Professorin Mary Ziegler von der Florida State University sieht allerdings auch die Gefahr der Bildung eines Schwarzmarktes, einer Welt mit falschen Adressen und illegalen Händlern.
Für feministische Aktivistinnen scheint der Kampf vor dem Obersten Gericht schon fast verloren, der technologische Kampf dagegen fast gewonnen. Eines ist sicher: Der Kulturkampf geht weiter!
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