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Staatsanwälte gegen Depressionen

Im Schatten von Putins Jahrespressekonferenz geht der Prozess gegen Memorial weiter

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie können fehlende Hinweise auf den Status als »ausländischer Agent« die Leser von Broschüren und Infoheften von Memorial gefährden? Die Frage von Memorial-Anwältin Marija Ejsmont bringt den Staatsanwalt des Moskauer Stadtgerichtes nur kurz ins Straucheln. »Nun, ich verstehe es auch nicht ganz«, sagt er, überlegt kurz und hat dann eine Idee. »Da Sie nicht angeben, dass Sie ein ausländischer Agent sind, können sich Bürger mit ihren Artikeln nicht kritisch auseinandersetzen«, zitiert der Sender Ren-TV den Juristen. Schlimmer noch: Der Psyche drohten ernsthafte Gefahren! Denn die von Memorial verbreiteten Schriften vermittelten ein »negatives Bild vom Staat« - und könnten so Depressionen hervorrufen.

Der viel zitierte Wortwechsel stammt vom zweiten Verhandlungstag im Prozess zur Auflösung des Menschenrechtszentrums von Memorial am vergangenen Freitag. Die Schließung des Memorialzweiges, welcher Opfer von Menschenrechtsverletzungen juristisch unterstützt, war von der Staatsanwaltschaft im November beantragt worden. Der Vorwurf: Das Zentrum weise nicht hinreichend auf seine Einstufung als »ausländischer Agent« hin. Zudem unterstütze es Terrorismus und Extremismus. Die Anschuldigungen beziehen sich auf in russischen Gefängnissen einsitzende Mitglieder radikaler Organisationen wie der islamistischen Hizb Ut-Tahrir und Tablighi Jamaat, welche Memorial als politische Häftlinge einstuft.

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Während der siebenstündigen Verhandlung fielen Beobachtern vor allem zwei Aspekte auf. Einerseits waren im Gegensatz zu vorherigen Verfahren Journalisten und Diplomaten zugelassen. Die Besucher konnten sich eine Übertragung der Verhandlung in einem benachbarten Raum anschauen. Zudem bemühte sich das Gericht sehr um die Einhaltung der Formalien: Beide Seiten brachten ohne zeitliche Begrenzung ihre Argumente vor, die Atmosphäre war wenig konfrontativ, das Gericht nahm Unterstützungsschreiben von Bürgern und eine Liste sämtlicher Auszeichnungen des Menschenrechtszentrums zu den Akten.

Andererseits blieb das Gericht in der Sache hart. Richter Michail Kasakow lehnte es ab, Zeugen vorzuladen, die darlegen wollten, wie sich ihr Kampf vor russischen Gerichten durch die Auflösung des Menschenrechtszentrums verschlechtern würde. Kasakow wies auch die von Memorial beantragte Vorladung der umstrittenen Experten Natalja Krjukowa und Alexander Tarasow ab. Die beiden Mitarbeiter des »Zentrums für soziokulturelle Gutachten« haben für das Gericht ein Gutachten erstellt, welches die Grundlage für die Terrorismusvorwürfe ist. Memorial moniert, Krjukowa und Tarasow fehlten die für eine solche Arbeit notwendigen Abschlüsse in Psychologie und Linguistik. Zudem hätten beiden schon in der Vergangenheit höchst umstrittene Gutachten geliefert - beispielsweise gegen die als extremistisch eingestufte Organisation »Nowoje Welitschije«, welche im Ruf steht, von staatlichen Hintermännern aufgebaut worden zu sein. Zudem strotze das Gutachten vor Formfehlern. In der Schrift fehlten immer wieder Wörter und ganze Absätze, manche Stellen seien aus Referaten von Schülern und Studenten zusammenkopiert.

Die Anhörung am vergangenen Freitag begann eine halbe Stunde nach dem Beginn der Jahrespressekonferenz von Präsident Wladimir Putin. Bei der knapp vierstündigen Veranstaltung war die Menschenrechtsorganisation allerdings kein Thema. Unter 60 Fragen gab es keine einzige zu Memorial. Journalisten der kremlkritischen »Nowaja Gazeta« waren mit Hinweis auf Coronabeschränkungen gar nicht erst eingeladen worden. Putin äußerte sich nur indirekt zu dem Prozess. »Wir verbieten die Arbeit dieser Organisationen nicht«, sagte er mit Blick auf das Gesetz über »ausländische Agenten«. Betroffene Vereine müssten aber ihre Finanzierung offenlegen.

Eine Woche zuvor hatte der Oberste Russische Gerichtshof den Prozess gegen den internationalen Dachverband von Memorial fortgesetzt. Auch diesem Memorialzweig wird vorgeworfen, seinen Status als »ausländischer Agent« in Internet und Broschüren nicht ausreichend gekennzeichnet zu haben. Der Prozess brachte wenig Überraschungen: Die Staatsanwaltschaft verwies auf fehlende Kennzeichnungen bei Instagram und anderen sozialen Netzwerken. Auch in dieser Verhandlung war das Gericht auffällig um die Einhaltung von Formalien bemüht: Unter anderem wurde eine Petition mit mehr als 127 000 Unterschriften zum Erhalt von Memorial zu den Akten genommen. Die Verhandlung endete indes ergebnislos: Der Prozess wurde auf den morgigen Dienstag vertagt. An einem möglichen Urteil wird sich das Moskauer Gericht orientieren, welches einen Tag später zum Menschenrechtszentrum tagt.

Unterstützer von Memorial sehen in der Vertagung der beiden Prozesse ein schlechtes Omen. Offenbar sollten das Menschenrechtszentrum und der Dachverband kurz vor dem russischen Neujahr verboten werden - wenn das ganze Land im Feiertaumel versinkt und sich die Menschen vor allem um Familie, Geschenke und Essen kümmern. Für den Politologen Alexej Makarkin ist die Auflösung der Memorialtöchter beschlossene Sache. Der Kreml sei nicht mehr sehr an der Meinung der internationalen Gemeinschaft interessiert, erklärt er in der »Newassimaja Gazeta«. Der Mehrheit sei das Schicksal von Memorial zudem egal.

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