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»Ich werde froh sein, dass das Jahr vorbei ist«
Konjunkturexperte Sebastian Dullien über die Entwicklung der Wirtschaft in Pandemie-Zeiten
Wenn Sie dieses Silvester anstoßen, werden Sie eher froh sein, dass 2021 vorbei ist, oder Angst haben, was 2022 noch so auf uns zukommen wird?
Ich werde froh sein, dass das Jahr vorbei ist, und hoffen, dass 2022 besser wird. Und das liegt nicht allein daran, dass in der Pandemiebekämpfung vieles nicht so gelaufen ist, wie ich gehofft habe.
Was lief sonst noch falsch?
Anfang des Jahres haben meine Kolleg*innen und ich noch ein kräftiges Wirtschaftswachstum für 2021 erwartet. Damals gingen wir noch davon aus, dass die erwachsene Bevölkerung bis zur Jahresmitte weitgehend durchgeimpft sei. Doch nun befinden wir uns in einer neuen Welle. Das alles bedeutet, dass wir auch konjunkturell gerade zum Jahresende einen kräftigen Dämpfer erleben. Hinzu kommen die Engpässe bei den Lieferketten, die dieses Jahr auf die Wirtschaftsleistung gedrückt haben.
Im September senkte das IMK seine Prognose für 2021 von ursprünglich 4,5 auf 2,6 Prozent deutlich nach unten. Von welchem Wirtschaftswachstum gehen Sie nun aus?
Wir haben unsere Prognose für 2021 unverändert gelassen. Für nächstes Jahr gehen wir nun aber von etwas weniger Wachstum aus. Im September prognostizierten wir 5,1 Prozent, nun halten wir 4,5 Prozent für 2022 für realistischer.
War also die vierte Welle aus konjunktureller Sicht nicht ganz so schlimm wie erwartet?
Das kann man so nicht sagen. Wir sind schon im September davon ausgegangen, dass es aufgrund der Pandemie-Situation wieder zu Konsum- und Kontaktbeschränkungen kommt. Das war aber nicht entscheidend, weil der Anteil der Gastronomie und des Freizeitgewerbes am Bruttoinlandsprodukt relativ gering ist.
Was ist dann entscheidend?
Viel entscheidender ist die Lage bei den Lieferketten. Da gab es wegen fehlender Halbleiter massive Probleme im Automobilsektor. Wir schätzen, dass ein- bis eineinhalb Millionen Autos deswegen in Deutschland nicht gebaut wurden. Das macht ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, das deswegen verloren gegangen ist. Das ist eine beachtliche Zahl. Und das hat das Wirtschaftswachstum massiv gebremst. Doch zuletzt hat sich da die Lage etwas entspannt. Und wir gehen davon aus, dass sich die Probleme bei den Lieferketten nächstes Jahr allmählich auflösen werden.
Die Probleme bei den Lieferketten kamen für viele überraschend. Hätte man das Problem vorhersehen können?
Die Lieferketten haben schon seit Anfang der Corona-Pandemie Probleme gemacht. Der Konjunktureinbruch 2020 hat vor allem seine Ursache darin, dass die Lieferketten innerhalb Europas gestört waren. Und auch dieses Jahr hat sich wieder gezeigt, dass viele Unternehmen beim Wachstum zu sehr auf Effizienz und zu wenig auf Widerstandsfähigkeit gesetzt haben. Sie probierten Dinge wie Just-in-time-Produktion aus, bei der nur das Material in der Stückzahl und zu dem Zeitpunkt geliefert und produziert wird, wie es auch tatsächlich zur Erfüllung der Kundenaufträge benötigt wird; sie versuchten Vorleistungen möglichst billig zu bekommen und sparten bei den Lagerhaltungskosten, um möglichst billig zu produzieren. Auch das Wachstum der Weltwirtschaft und die Globalisierung fußten auf diesen Prinzipien. Doch letztlich schätzten die Manager*innen da die Risiken falsch ein.
Denken Sie, dass bei einigen nun ein Umdenken einsetzt?
Ja. Viele Unternehmen werden vermutlich jetzt ihre Lieferketten überdenken und zum Beispiel für kritische Vorprodukte mehrere Lieferanten suchen oder die Produktion wieder näher nach Hause holen.
Glauben Sie, dass solche Engpässe wieder vorkommen können?
Natürlich. Zum einen müssen die Lieferketten erst einmal umgebaut werden, was aufwendig ist. Zum anderen ist da die Frage, wie nachhaltig der Umbau sein wird. So wird die nächste Generation von Manager*innen vermutlich die Fehler der alten wieder vergessen haben. Und die Lieferketten sind nicht der einzige Bereich, wo die Risiken falsch eingeschätzt wurden. Ein Paradebeispiel sind die Finanzmärkte, von denen die letzte große Krise ausging.
Denken Sie, dass auch der Staat regulierend eingreifen wird?
Im Gesundheitsbereich hat er damit schon angefangen. Da hat die Bundesregierung Verträge mit Maskenherstellern im Inland geschlossen. Es ist auch vorstellbar, dass zum Beispiel kritische Medikamente künftig zum Teil im Inland produziert werden müssen.
Außerhalb des Gesundheitsbereichs wird es solche direkten Eingriffe vermutlich jedoch nicht geben. Da wird die Bundesregierung vermutlich im Rahmen ihrer Industriepolitik darauf hinwirken wollen, dass zum Beispiel Halbleiter wieder vermehrt in Europa hergestellt werden. Das könnte dann entweder über Subventionen oder Einfuhrzölle geschehen.
Wenn Sie jetzt auf fast zwei Jahre Pandemie zurückschauen: Hätten Sie sich als Ökonomie-Student oder junger Wissenschaftler vorstellen können, dass eine Pandemie einmal so sehr das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben einschränkt?
So etwas wie jetzt habe ich tatsächlich nicht erwartet. Schließlich hatte man früher bei Erregern, die wie die ersten Sars-Viren neu auftraten, die Ausbreitung schnell im Griff. Daher gab es auch nur einen äußerst begrenzten Schaden für die Gesellschaft und die Wirtschaft.
Wird es da auch nächstes Jahr böse Überraschungen geben?
Es kann immer wieder zu neuen Mutationen kommen, die bösartiger und ansteckender sind. Insofern werden wir auch nächstes Jahr vermutlich die Pandemie noch nicht besiegt haben. Wahrscheinlich werden wir sie erst im Laufe des Jahres 2023 in den Griff bekommen.
2021 war nicht allein bestimmt von der Pandemie. Es gab auch eine Bundestagswahl. Nach 16 Jahren Merkel stellt nun die SPD mit Olaf Scholz wieder einen Kanzler. Dabei ging es im Wahlkampf auch viel um Investitionen in die digitale und klimaneutrale Zukunft. Wie zufrieden sind Sie diesbezüglich mit dem Koalitionsvertrag?
Der Koalitionsvertrag bietet die Voraussetzungen, dass in den nächsten vier Jahren viel umgesetzt werden kann. Die Frage ist nur, ob diese Chance genutzt wird.
Diese Aussage von Ihnen überrascht jetzt etwas. Seit Längerem schon sprechen Sie sich – wie auch ihr Kollege Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln für eine Reform der Schuldenbremse aus, um so den Weg frei zu machen für Investitionen in Höhe von 500 Milliarden Euro. Doch die FDP hat sich erfolgreich gegen eine Reform der Schuldenregeln gewährt.
Eine Reform der Schuldenbremse wäre wahrscheinlich besser, ehrlicher und transparenter gewesen. Aber wenn man sich die einzelnen im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Maßnahmen genauer anschaut, dann sieht man, dass zusätzliche Investitionen in Höhe von jährlich 40 bis 50 Milliarden in den nächsten zehn Jahren durchaus möglich sind.
Einer Reform der Schuldenregeln für mehr Investitionen sind auch viele Stimmen aus der Wirtschaft nicht abgeneigt gewesen.
Warum hat die FDP trotzdem so sehr darauf beharrt? Sie hätte auch einer Reform zustimmen und dafür vielleicht eine Steuersenkung zugunsten der sogenannten Leistungsträger*innen aushandeln können.
Da müssen Sie Christian Lindner fragen. Mein Verdacht ist aber, dass die FDP-Führung glaubte, dass ihren Wähler*innen die Einhaltung der Schuldenbremse wichtiger war als eine Steuersenkung.
Woher soll das Geld kommen, wenn sowohl Steuererhöhungen als auch eine Reform der Schuldenbremse ausgeschlossen ist?
Trotzdem ist im Koalitionsvertrag genug Spielraum für eine zusätzliche Kreditaufnahme angelegt.
Wie soll das gehen mit FDP-Chef Christian Lindner als Bundesfinanzminister?
Den Klimafonds zum Beispiel will er mit 60 Milliarden Euro ausstatten, die der Bund dieses Jahr an Krediten aufnahm, aber nicht benötigte. Gleichzeitig soll nach dem Willen der Ampel zum Beispiel die Bahn mehr Kredite aufnehmen können. Damit könnten dann Investitionen ins Schienennetz getätigt werden. Und auch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, Bima, soll leichter Kredite aufnehmen können, um den Wohnungsbau zu finanzieren.
Geht das in die Richtung der Investitionsgesellschaften, die Sie ins Spiel gebracht haben, um die Schuldenbremse zu umgehen?
Im Grunde sind Bahn und Bima bereits so etwas wie Investitionsgesellschaften.
Das hört sich alles nach ganz schön vielen Taschenspielertricks an. Warum hat die FDP das mitgemacht? Um besser bei ihrer Klientel dazustehen?
Genau.
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