Noch sind die Heizkosten wichtiger

Russische Truppenaufmärsche sind viele Ukrainer längst gewöhnt. Doch Kiewer Politiker sind alarmiert

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit Anfang November spricht die ganze Welt über einen erneuten russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze. Zuerst berichtete die »Washington Post« über die riesige Truppenansammlung, dann spekulierten andere internationale Medien, darunter die »Bild-Zeitung« und der Nachrichtensender Bloomberg, auf der Grundlage von US-Geheimdienstquellen über mögliche Angriffspläne der russischen Armee. Die Reaktion der ukrainischen Offiziellen darauf fiel zunächst erstaunlich gelassen aus. Zwar wurden die Berichte nicht grundsätzlich dementiert. Allerdings erklärte Kiew zunächst, dass man kein signifikantes Anwachsen der Zahl der Truppen im Vergleich zu einem ähnlichen russischen Manöver in diesem Frühjahr festgestellt habe.

Dennoch hat auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigt, dass sich bis 100 000 russische Soldaten in der Nähe der Grenze befinden. Trotzdem bleiben die offiziellen Stimmen im Vergleich zum vorherrschenden Ton in der westlichen Berichterstattung etwas gelassener - auch wenn der Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko ohne Absprache mit dem zuständigen Ministerium nun sogenannte territoriale Verteidigungseinheiten schaffen will, um die zentralen Behörden in der ukrainischen Hauptstadt im Falle eines russischen Angriffs zu schützen.

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Man halte einen unmittelbaren Angriff Russlands im Moment für eher unwahrscheinlich, erklärte der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Olexij Danylow, in einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP Ende Dezember. Laut Danylow habe Moskau die Anzahl seiner Streitkräfte in der Region seit Oktober von 93 000 auf 104 000 Soldaten erhöht. »Das sehen wir nicht als einen kritischen Truppenzuwachs«, betonte er. »Die Gefahr für die Ukraine besteht jedoch jeden Tag, unabhängig davon, wie viele Soldaten Russland zu unserer Grenze schickt. Im Falle einer Invasion wird die ganze Gesellschaft die Ukraine verteidigen.«

Während eines Briefings des Sicherheitsrates im westukrainischen Iwano-Frankiwsk konkretisierte Danylow ukrainische Angaben zur russischen Truppenzahl an der Grenze: »In einer Entfernung von bis zu 200 Kilometern befinden sich rund 122 000 Soldaten.« Danylow war es darüber hinaus wichtig, darauf hinzuweisen, dass in der Ukraine schon seit dem Jahr 2014 ein Krieg laufe und es aus seiner Sicht enorm wichtig sei, dass die westlichen Länder dazu Stellung bezögen. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow kritisierte dagegen die Initiative von Kiews Bürgermeister Klitschko mit harschen Worten: »Die wichtigen Verteidigungsfragen unseres Landes können keine Grundlage für politische PR sein.«

Die meisten Umfragen zeigen, dass sich die Ukrainer derzeit vor allem wegen der Erhöhung der Strom- und Heizkosten und einer möglichen Verschärfung der Wirtschaftskrise Sorgen machen. Obwohl der Krieg im Donbass seit mehr als sieben Jahren läuft und längst zu einem Dauerzustand für das Land geworden ist, wachsen aber auch die Sorgen wegen der Spannungen an der Grenze zu Russland. Laut einer aktuellen Studie des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts von Mitte Dezember halten 49 Prozent der Befragten eine Invasion der russischen Armee für durchaus realistisch. 41 Prozent der Umfrageteilnehmer gehen dagegen davon aus, dass es nicht dazu kommen wird.

Bemerkenswert ist, dass auch die Zahl der Befürworter einer Nato-Mitgliedschaft des Landes kontinuierlich wächst. Für einen Beitritt zu dem westlichen Militärbündnis sprechen sich 58 Prozent der Teilnehmer der November-Umfrage des soziologischen Instituts Rating Group aus. Der wachsende Trend wird auch von einer Umfrage des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts bestätigt. Demnach würden 59 Prozent bei einem Referendum für einen Nato-Beitritt der Ukraine votieren. 39 Prozent der Studienteilnehmer glauben, dass der von Russlands Präsident Wladimir Putin geforderte Verzicht auf die Mitgliedschaft im Bündnis die Sicherheit der Ukraine keinesfalls stärken und Aggressionen Putins gegenüber Kiew befeuern würde.

Nach Einschätzung des Großteils der ukrainischen Militärexperten genügt die aktuelle Anzahl der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine jedoch sowieso nicht, um einen wie von der »Bild-Zeitung« skizzierten Großangriff durchzuführen, bei dem etwa zwei Drittel des ukrainischen Territoriums besetzt würden. Auch die von der »Washington Post« ins Spiel gebrachte Truppenaufstockung auf bis zu 175 000 russische Soldaten würde dazu nicht ausreichend. Zumal Russland Ende der vergangenen Woche nach eigenen Angaben 10 000 Soldaten aus dem südlichen Militärbezirk in der Grenzregion zur Ukraine wieder abgezogen hat.

Die Jahrespressekonferenz Wladimir Putins vom vergangenen Donnerstag, bei der er unter anderem die ukrainischen Wurzeln der Industrieregion Donbass infrage stellte, war jedoch kein Anlass zur Beruhigung. Kiews größte Sorge ist derzeit, dass Moskau einen Angriff auf eine strategisch wichtige Stadt durchführen könnte. Als mögliches Ziel eines solchen Schlages gilt die Hafenstadt Mariupol, die größte Stadt im Donbass, welche sich noch unter ukrainischer Kontrolle befindet.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -