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Mehr als nur eine Zeitung
Die Genossenschaft des kommunistischen »Il Manifesto« geht mit Elan in die nächsten 50 Lebensjahre
Nur 50 Lire kostete die erste Ausgabe von »Il Manifesto«, 50 Cent wären das heute. Die »kommunistische Zeitung« beging 2021 ihren 50. Geburtstag, seit je bemüht, die Verhältnisse in Italien und der Welt politisch einzuordnen für die linke Leserschaft.
Noch immer stellt das Blatt einen zentralen Bezugspunkt dar für die italienische Linke, stand Modell für die französische Tageszeitung »Libération« und die »Taz«. Dabei war »Il Manifesto« alle paar Jahre vom Aus bedroht, das Geld war chronisch knapp. Hinter der Zeitung steht bis heute keine Partei, kein Verleger oder Mäzen, sondern allein ihre Leser und Unterstützer. Dafür erhält »Il Manifesto« staatliche Fördergelder, da es als Genossenschaft organisiert ist: 2020 waren das rund drei Millionen Euro, immerhin ein Drittel des Budgets. »Ohne diese öffentliche Finanzierung wäre es für uns, wenn nicht unmöglich, so doch sehr schwierig, unsere Geschichte fortzusetzen«, sagt Norma Rangeri dem »nd«. Sie führt die Zeitung seit 2010 als Direktorin, was der Funktion der Chefredakteurin gleichkommt. Die Fördergelder sollen jedoch schrittweise abgebaut werden; das wird frühestens 2024 beginnen.
Dass »Il Manifesto« keine beliebige Tageszeitung ist, merken Leser sofort, wenn sie das Blatt in die Hand nehmen. Über dem Zeitungstitel thront noch immer die Zeile »quotidiano comunista«, kommunistische Tageszeitung, klein zwar, aber in sichtbarem Rot. Die Zeitungsmacher nennen sich nicht Redaktion, sondern Kollektiv. »Unsere Zeitung ist das Ergebnis einer kollektiven Arbeit, die über das normale Engagement, Information zu machen, hinausgeht«, schrieb Norma Rangeri im Leitartikel zum 50-jährigen Jubiläum. »›Il Manifesto‹ ist mehr als nur eine Zeitung. Es ist eine Idee, eine Schule, ein Gefühl, ein kollektiv schlagendes Herz.« Wie könnte es anders sein, entstand die Zeitung doch als politisches Projekt, begleitete die Arbeitskämpfe des »roten Jahrzehnts« (Ende der 60er bis Ende der 70er Jahre) beim Autokonzern Fiat und in anderen Fabriken, war getragen von der Welle der 68er-Bewegung, die in Italien ein besonders heftiges gesellschaftliches Erdbeben auslöste und sich unter zunehmender Radikalität und Militanz bis weit in die 70er Jahre zog.
Indirekter Auslöser für die Gründung der Zeitung war der Einmarsch von Truppen des Warschauer Vertrags in die Tschechoslowakei, die Niederschlagung des sogenannten Prager Frühlings am 21. August 1968. Eine linksradikale Gruppe von Mitgliedern innerhalb der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI - Partito Comunista Italiano) kritisierte vehement die Interventionspolitik der Sowjetunion und positionierte sich links von der offiziellen Parteilinie, die Kompromisse mit den regierenden Christdemokraten nicht ausschloss. Die Gruppe gab sich den Namen »Il Manifesto«, verstand sich als autonome politische Einheit der neuen Bewegungslinken und war offen für die zahlreichen marxistisch-kommunistischen Gruppen, die nach 1968 in großer Zahl in Italien entstanden. Zu »Il Manifesto« gehörten einige der klügsten Köpfe der radikalen Linken Italiens: Rossana Rossanda, Luigi Pintor, Valentino Parlato, Lucio Magri, Luciana Castellina. Später wurden sie die Edelfedern des Blattes, ihre Artikel Referenz für politische Debatten innerhalb der Linken - nicht nur in Italien. Zu den Autoren gehörten unter anderem Umberto Eco und Jean-Paul Sartre.
Die erste Nummer erscheint am 23. Juni 1969, zunächst als Monatszeitschrift mit einer Auflage von 75 000 Exemplaren. Der Leitartikel »Praga è sola« (Prag ist allein) in der zweiten Ausgabe (4. September 1969) verurteilt die militärische Invasion der Tschechoslowakei und geht hart ins Gericht mit der PCI, die sich zurückhielt mit Kritik an Moskau wegen der Ereignisse in Prag. Damit stellen sich die »Manifesto«-Gründer außerhalb der Partei. »Dies war der Gründungsakt der Zeitung für einen libertären Kommunismus«, sagt Norma Rangeri. 18-mal kommt die Zeitschrift noch heraus, bevor am 28. April 1971 aus dem Monatsperiodikum eine Tageszeitung wird. Im ersten Leitartikel erklärt der damalige Direktor Luigi Pintor die Intentionen der Gründung einer Tageszeitung: »Es sind dieselben (Absichten), die uns in der langen Militanz für die italienische Revolution in der kommunistischen Partei und Presse animiert haben. Es sind dieselben, die uns dazu gebracht haben, in der Arbeiter- und Studentenrebellion dieser Jahre eine neue historische Chance für den Vormarsch des Kommunismus zu sehen.«
Luciana Castellina, »Grande Dame« der italienischen Linken, ist als Mitbegründerin das lebende Gedächtnis von »Il Manifesto«. Die 1929 in Rom geborene Politikerin erinnert daran, dass »Il Manifesto« noch innerhalb der Kommunistischen Partei gegründet worden war. »Und wir dachten, dass wir unsere Zeitschrift auch weiterhin innerhalb der PCI herausgeben könnten.« Sie irrten: Castellina und ihre Mitstreiter*innen wollten die Publikation als Ort der politischen Auseinandersetzung nicht aufgeben, die Partei reagierte mit dem Ausschluss der Dissidenten.
Daraufhin entstehen in ganz Italien Unterstützergruppen, gegründet vor allem von politisch aktiven jungen Leuten, Arbeitern und Studierenden. »Wir mussten durch ganz Italien reisen, um zu verstehen, was das für Leute waren, die sich selbst ›Verein des Manifesto‹ genannt haben«, erinnert sich Luciana Castellina. An diesem Punkt stellte sich die Frage, was »Il Manifesto« sein sollte: »Wir konnten nicht nur eine Zeitschrift sein, denn das hätte bedeutet, ein reines Intellektuellen-Projekt zu sein: ›Wir schreiben und ihr müsst nur lesen!‹ Das wollten wir nicht«, beschreibt sie die damaligen Pläne. Die Gruppe will Teil des politischen Kampfs sein, einer entstehenden organisierten Bewegung.
1972 muss entschieden werden, ob »Il Manifesto« bei den Wahlen antreten soll. Im selben Jahr kommt es zur ersten Versammlung der »Manifesto«-Vereine aus ganz Italien, und die große Mehrheit stimmt für eine Beteiligung an den Wahlen. Die Gruppe »Il Manifesto« nähert sich der linksradikalen Partei der proletarischen Einheit (PdUP) an, sie verschmelzen 1974 zur PdUP für den Kommunismus. »Wir wollten unbedingt das Wort ›Kommunismus‹ im Namen haben«, sagt Castellina. Die sozialistisch geprägte PdUP war dagegen. Ein Fußballspiel bringt die Entscheidung: Die Spieler von »Il Manifesto« waren jünger und gewannen mühelos die Partie. Langfristig scheiterte der Versuch, aus »Il Manifesto« eine eigenständige politische Formation zu bilden, große Wahlerfolge blieben aus. Einzelne Exponenten zogen in Stadt- und Landesparlamente, so war Luciana Castellina auch Europa-Abgeordnete.
Die Zeitung aber blieb und rüstet sich nun für die nächsten 50 Jahre. »Il Manifesto« hat Preise gewonnen für Titelseiten und war immer erfinderisch beim Texten intelligenter und witziger Aufmacher. Auch im Marketing fehlte es nicht an Fantasie. So entstand 2007 ein Stickeralbum zum 90. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution mit Klebebildern von Kommunisten, Sozialisten und Revolutionären. Investiert wird vor allem in die Online-Dienste. Voraussichtlich im Januar geht eine neu gestaltete Webseite online: dynamischer und nutzerfreundlicher. Online werde die Zeitung schon jetzt regelmäßig von 240 000 Lesern genutzt, sagt Norma Rangeri - gratis, da »Il Manifesto« keine Pay-Wall vorgeschaltet hat. Und für die internationale linke Leserschaft bietet die Redaktion eine wöchentliche Auswahl von Artikeln in englischer Sprache auf einer eigenen Webseite an: https://global.ilmanifesto.it/
Bisweilen war das Überleben in Gefahr, da griff die Redaktion auch mal zu ungewöhnlichen Absatzstrategien: Im Dezember 2008 forderte »Il Manifesto« glatte 50 Euro für eine Tagesausgabe. »Kommunisten machen teuerstes Blatt«, titelte der »Tagesspiegel«. Die größte Krise traf das Blatt 2012: Die alte Genossenschaft hatte so viele Schulden angehäuft, dass sie Konkurs anmelden musste; »Il Manifesto« wurde unter Zwangsverwaltung gestellt und sollte zum Jahresende eingestellt werden. »Das war der gefährlichste Moment für die Zeitung«, erinnert sich Norma Rangeri. Mit einer Kampagne für eine außerordentliche Zeichnung von Anteilen und Abos wurde die Zeitung gerettet, so Rangeri.
Ab 1. Januar 2013 wird »Il Manifesto« von einer neuen Genossenschaft herausgegeben, die Zeitung verliert aber zwei Autor*innen aus der Gründergruppe: Rossana Rossanda und Valentino Parlato haben ihre Mitarbeit aufgekündigt, offenbar wegen Meinungsverschiedenheiten über die Linie der Zeitung. Im Juli 2016 beginnt für »Il Manifesto« dann ein zweites Leben: Die Macher kaufen ihr Blatt aus der Zwangsliquidation zurück, den historischen Zeitungsnamen sowie die Web-Domain, und sind wieder unabhängig. Direktorin Norma Rangeri schreibt im Leitartikel vom 15. Juli 2016: »Die Nachricht ist einfach, außergewöhnlich und aufregend: Wir sind wieder die Eigentümer des ›Manifesto‹.« Auch die Personalsituation konsolidiert sich. Heute arbeiten rund 60 Menschen im Kollektiv, davon 45 Journalisten, bezahlt nach Tarifverträgen, so Rangeri. Die Druckauflage liegt bei 35 000 Stück, etwa 15 000 werden verkauft: 8000 Tag für Tag am Zeitungskiosk, 6000 per Online-Abo; dazu kommen rund 900 Print-Abonnements per Post, sagt Direktorin Norma Rangeri. »Damit gehören wir zu den fünf überregionalen Tageszeitungen Italiens mit den meisten Digital-Abos.«
Mit 50 Jahren Erfahrungsvorsprung gibt Luciana Castellina der nd-Genossenschaft noch einen Ratschlag mit auf den Weg: Die Zeitung müsse Kontakt zur Gesellschaft halten; eine Redaktion tendiere zur Isolation, leide unter den Einschränkungen der journalistischen Arbeit. Sie schlägt vor, Beratergruppen zu bilden, »denen die Linke angehört, aber auch Bewegungen und Gruppen, die vor Ort aktiv sind. Einmal im Jahr konsultiert man sie und schafft auf diese Weise eine Form der Einmischung der Gesellschaft in die Zeitungsarbeit.«
Norma Rangeri ist überzeugt, dass die Zeitung weiter gebraucht werde: »Unsere Arbeit wird von denselben Grundsätzen bestimmt wie immer: Wir stehen der Selbstherrlichkeit des Kapitalismus kritisch gegenüber und setzen uns für die am wenigsten geschützten Arbeitnehmer ein. Wir geben den Verdammten der Erde und den Jugendbewegungen Sichtbarkeit.«
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