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Rückkehr der »Baseballschläger-Jahre«?
Wieder Proteste von Corona-Verharmlosern. Experte David Begrich sieht Kontinuitäten zu 90er-Jahren
Der junge Mann mit der schwarzen Kapuze hat die Chance sofort erkannt. »Ihr müsst weiterlaufen! Ihr seid viel mehr!«, forderte er andere Demonstrierende, die sich einer Polizeikette gegenüber sahen, zum Durchbruch auf. Die kurze Szene, die sich am Montagabend im sächsischen Freiberg abgespielt haben soll, ist in einem auf Twitter verbreiteten Video zu sehen. Sie spiegelt das Selbstbewusstsein der Protestierenden gegenüber den Sicherheitsbehörden wider, das die allmontäglich stattfindenden und oftmals von Rechtsradikalen durchsetzten Proteste gegen die Corona-Maßnahmen mittlerweile prägt.
»Lauft doch einfach! Ihr seid Hunderte mehr! Einfach laufen!«, wiederholte der Mann seine Aufforderung eindringlich. Dann riefen er und seine Kumpane: »Wir sind mehr! Wir sind mehr!« Den Slogan prägten ursprünglich Antifaschist*innen in Reaktion auf die Ausschreitungen in Chemnitz im Jahre 2018, als Neonazis Migrant*innen durch die Stadt jagten. Nun deuten die Corona-Verharmloser*innen den Spruch für sich um – die Tatsache ignorierend, dass sie deutschlandweit eine kleine, wenngleich laute Minderheit darstellen.
Die Demonstrant*innen auf der anderen Seite der Polizeikette zögerten zunächst, folgten aber schließlich der Aufforderung. Die wenigen Beamt*innen versuchten noch, den Durchbruch zu verhindern. Sie mussten aber schnell einsehen, dass sie dem Ansturm wenig entgegenzusetzen hatten. Auch vereinzelte Tritte hielten die Protestierenden nicht ab. Einer brüllte in Richtung eines Polizisten: »Verpiss dich!« Der Beamte wich.
Polizist gebissen, Pyrotechnik gezündet
Es war eine kurze, aber symbolische Szene. In zahlreichen Städten, in Ost- und Westdeutschland, fanden am Montagabend wieder Proteste gegen die Corona-Maßnahmen statt. Dabei kam es teilweise zu Drohungen, Ausschreitungen und Gewalt. Zigtausende Menschen waren auf der Straße, die Veranstaltungen waren zum Teil nicht genehmigt.
Allein in Sachsen dürfte die Zahl der Teilnehmer*innen nach Behördenangaben in die Zehntausende gegangen sein. Bei teils unangemeldeten Protesten in den Landkreisen Görlitz und Bautzen mit insgesamt rund 5500 Teilnehmern wurden nach Angaben der Polizei 37 Straftaten und 140 Ordnungswidrigkeiten aufgenommen. In Lichtenstein im Landkreis Zwickau seien insgesamt 14 Beamte verletzt worden. »Eine Person versuchte, einem Beamten die Dienstwaffe zu entreißen, und ein Polizist erlitt eine Bissverletzung durch einen Teilnehmer der Versammlung«, teilte die Polizei mit.
In Sachsen-Anhalt kam es bei Protesten gegen die staatlichen Beschränkungen ebenfalls zu Ausschreitungen. Die Polizeiinspektion in Magdeburg berichtete von durchbrochenen Polizeiketten, Flaschenwürfen auf Beamte und Pyrotechnik. Nach ersten Erkenntnissen seien aber keine Polizisten verletzt worden. In der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt hatten sich laut Polizei etwa 2500 Menschen versammelt. Die Versammlung sei wie die meisten im Gebiet der Polizeiinspektion nicht angezeigt gewesen.
In Berlin begann der größte Demonstrationszug nach Behördenangaben mit knapp 400 Menschen am Alexanderplatz und zog über die Straße Unter den Linden. Dabei wurde vor dem ZDF-Hauptstadtstudio eine Kundgebung abgehalten, es wurden Parolen wie »Lügenpresse« gerufen.
Auch die Drohungen gegen Politiker*innen gehen weiter. Nachdem Demonstrierende Anfang Dezember vor das Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping gezogen waren und Unbekannte rund um den Jahreswechsel die Büros von Karl Lauterbach und Marco Wanderwitz angegriffen hatten, wurde nun Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig im Netzwerk Telegram mit dem Tode bedroht. In einem der »Querdenken«-Szene zugeordneten Text heißt es: »Sie wird abgeholt, entweder mit dem Streifenwagen, mit dem Krankenwagen in Jacke oder mit dem Leichenwagen, egal wie, sie wird abgeholt.« Schwesig bedankte sich mit einem Tweet für die Anteilnahme und stellte klar: »Gewalt ist kein Mittel.« In Mecklenburg-Vorpommern beteiligten sich am Montagabend an Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen in mehr als 20 Städten laut Polizei rund 12 000 Menschen.
Stichwort: dezentrale Mobilisierung
David Begrich beobachtet eine Entwicklung der Proteste in Ostdeutschland. »Das Netzwerk ›Querdenken‹ und Akteure wie Michael Ballweg und Bodo Schiffmann haben keinen steuernden Einfluss mehr auf das Protestgeschehen in Ostdeutschland«, sagt der Rechtsextremismusexperte vom Netzwerk »Miteinander e.V.« aus Sachsen-Anhalt gegenüber »nd«. Stattdessen habe man es im Osten »hauptsächlich mit dem Pegida-Milieu und dem vorpolitischen Raum der AfD zu tun«. Hinzu kämen Menschen, »die tatsächlich aus Angst vor der Impfung oder den Maßnahmen auf die Straße gehen«.
Auffällig ist auch, dass es mittlerweile viele kleine Aktionen und weniger zentrale große wie in Berlin 2020 gibt, als Protestierende die Reichstagstreppe erklommen. Nun sind es wenige Hundert, auch mal Tausende, die sich versammeln. »Die Dezentralisierung schafft denjenigen, die auf die Straße gehen, eine immense Selbstwirksamkeit«, sagt Begrich und konkretisiert: Wenn man mit 600 Leuten in einer 25 000-Einwohner-Stadt wie Sangerhausen in Sachsen-Anhalt auf die Straße gehe, sei das »für eine Stadt wie Sangerhausen eine Großdemonstration. Damit bestimmt man den Diskurs in der Stadt.« Die Zivilgesellschaft, so Begrich, tue sich hingegen schwer: »Das hat mit der Pandemiesituation zu tun, es finden ja nicht ohne Grund weniger Veranstaltungen statt.«
Zudem sieht der Experte gewisse Kontinuitäten zu den frühen 90er-Jahren. Für die damalige Zeit, geprägt durch rassistisch motivierte Übergriffe etwa in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, wird heute der Begriff »Baseballschlägerjahre« verwendet. »Wenn ich mir die ersten Reihen der Demonstrationen in Magdeburg anschaue, dann sind das die gleichen Leute, die in den 1990er-Jahren die Akteursgruppe für neonazistische Gewalt gebildet haben: Hooligans, Rechtsextreme«, sagt Begrich. Kehren die »Baseballschlägerjahre« zurück?
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