Wahnsinn first

Ein Sonderausschuss untersucht den Sturm aufs US-Kapitol, während im Land demokratiefeindliche Stimmen gefährlicher werden

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Selten gab es in der an Gewalt reichen, bald 250-jährigen Geschichte der USA einen besseren Grund für einen Untersuchungsausschuss: Das Sonderkomitee des Repräsentantenhauses wurde eingesetzt, um Hintergründe des Sturms auf das Kapitol in Washington heute vor einem Jahr zu beleuchten. »Der 6. Januar«, schrieb die »Washington Post«, »ist nicht einfach das größte politische Ereignis 2021 gewesen. Er ist das größte politische Ereignis des Jahrzehnts, und es gehört wohl sogar ins erste Kapitel von Amerikas Gesamtgeschichte.« Das Gremium steht vor der Frage: Zettelte ein Präsident einen Putsch an, um an der Macht zu bleiben?

Stunden bevor im Kapitol, Sitz von Senat und Repräsentantenhaus, Joe Bidens Sieg in der Präsidentenwahl vom November 2020 bestätigt werden sollte, machte sich der Mob auf. Noch-Präsident Donald Trump gab den Marschbefehl. In einer Rede hetzte er Hunderte Fans auf, das Parlament und Vizepräsident Pence zu erpressen, damit dieser als Führer des Senats Biden die Bestätigung versagt. Trump sollte so eine zweite Amtszeit - dem Land ein Staatsstreich und die beschleunigte Demontage der Demokratie beschert werden. Der Mob drang ins Kapitol, legte Bomben, ging auf Menschenjagd. Fünf Personen starben, zwei Beamte begingen später Suizid.

Das Justizministerium arbeitet mit dem Special House Committee zusammen und teilte mit, bisher seien 675 Personen inhaftiert worden. Weitere Klagen, darunter gegen Mitglieder der rechtsextremen Proud Boys und Oath Keepers, sind anhängig. Strafen ergingen wegen bewaffneten Angriffs auf Polizeibeamte. So verurteilte ein Bundesrichter Jacob Chansley, wegen seines »Büffelkopfs« beim Aufruhr als »QAnon-Schamane« bekannt, zu 41 Monaten Gefängnis. Die bisher längste Haftstrafe erhielt Robert Palmer aus Florida. Er hatte Balken und Feuerlöscher auf Polizisten geworfen und wurde vor Heiligabend mit 63 Monaten Gefängnis belegt.

Die Aktion »Wahnsinn first«, der schwerste Angriff auf das Parlament seit dem britisch-amerikanischen Krieg 1812, lief im Scheinwerferlicht, aber nicht ohne Regie ab, wie der U-Ausschuss feststellte. Er arbeitet seit Ende Juli. Mehrheitlich mit Demokraten besetzt, gehören ihm auch zwei Republikaner an, Liz Cheney und Adam Kinzinger. Die meisten Republikaner indes boykottieren das Gremium, hoffen es nach Sitzgewinnen bei den Zwischenwahlen im Herbst ganz zu beerdigen und folgen damit Trumps Linie, der alles sabotiert. Das galt für seine letzten Amtstage wie für das zweite Amtsenthebungsverfahren, das er dank neuerlicher Feigheit der Mehrzahl der republikanischen Senatoren überstand. Und die Blockade dauert fort. Er leugnet weiter seine Wahlniederlage, bestreitet jede Verantwortung für die Revolte und wehrt sich gegen die Herausgabe von Dokumenten in Verbindung mit dem 6. Januar.

Zuletzt jedoch entschied ein Gericht, dass die Papiere herausgegeben werden dürfen. Trump hatte dagegen geklagt und sich auf das Exekutivprivileg berufen. Dies erlaubt es einem Präsidenten, bestimmte Dokumente geheim zu halten. Ein Berufungsgericht wies diese Argumentation im November aber zurück: Exekutivbefugnisse gälten nicht lebenslang, und die Entscheidung des heutigen Präsidenten Biden zur Freigabe der Dokumente habe mehr Gewicht als Trumps Weigerung. Aktuell hofft Trump auf ein rettendes Urteil des Obersten Gerichts.

Soeben kündigte Bennie Thompson, Chef des Sonderausschusses, an, das Gremium wolle auch Zugang zu Trumps Telefonaten, »mit denen er Stunden vor dem Aufruhr die Beglaubigung von Bidens Wahlsieg stoppen wollte«. Der »Guardian« hatte als erster berichtet, der Präsident habe »in den späten Stunden des 5. Januars seine Anwälte im Washingtoner Hotel Willard angerufen, um Biden zu verhindern«. Er habe seine Komplizen - ein Team unter Leitung von Anwalt Rudy Giuliani und dem früheren Chefstrategen Steve Bannon - bedrängt, Bidens Bestätigung mit Hilfe neuer Wahlleute zu vereiteln. Die Arbeit des Komitees, eine der größten Strafrechtsermittlungen in Amerikas Geschichte, hat die Nervosität auch andernorts vergrößert. Ende Dezember lud es mit dem republikanischen Abgeordneten Scott Perry erstmals ein aktives Mitglied des Repräsentantenhauses vor. Der Ausschuss droht all jenen mit Beugehaft, die wie Perry oder zuvor Trumps letzter Stabschef Mark Meadows und Steve Bannon die Aussage verweigern.

Der Führer der republikanischen Senatsfraktion, Mitch McConnell, erklärte vor Weihnachten, es werde »interessant sein, was der Ausschuss so zutage fördert« und das er dessen Arbeit »jeden Tag« verfolge. McConnell war lange enger Trump-Verbündeter, doch nach der Wahlniederlage von diesem beleidigt worden. Auch vorher hatte es gelegentlich Spannungen zwischen den beiden gegeben. Der mächtigste Republikanersenator habe sich vom Zweifler am U-Ausschuss »zum Cheerleader« gewandelt, hielt zuletzt die »Washington Post« fest. Als Grund sieht sie McConnells Sorge, das Gremium »könnte potenziell Wichtiges zutage fördern, was für gewisse Mitglieder seiner Partei keinen guten Eindruck hinterlässt«.

Der Ex-Präsident hatte - ganz Trump-Old-School - provokant angekündigt, am Jahrestag eine Pressekonferenz zu geben. Die Ankündigung, auch darin ganz der Alte, war voller alter Lügen. Auf Druck von Republikaner-Senatoren sagte Trump den Auftritt jedoch einen Tag vorher ab. Der aktuell von den Demokraten mit knapper Mehrheit dominierte Kongress will den Jahrestag in »feierlicher Wachsamkeit«, begehen. Die Gefahren für Amerikas Demokratie wird er nicht beseitigen.

Lesen Sie auch: »So etwas siehst du nur im Krieg« - Die ARD-Doku »Der Sturm auf das Kapitol« erinnert an die Gewalt vor einem Jahr

Die »New York Times« schrieb zu Neujahr im Leitartikel: »Der 6. Januar ist nicht vorbei. Er findet jetzt täglich statt. Einfache Bürger bedrohen Wahlverantwortliche und fragen ›Wann können wir zu den Waffen greifen?‹. Sie drohen Politiker zu ermorden, die bei Wahlen ihrem Gewissen folgen. Republikanische Parlamentarier tun alles, um den Leuten das Wählen zu erschweren und es leichter zu machen, den Wählerwillen zu untergraben, wenn sie es dennoch tun. Donald Trump heizt mit zügellosen Lügen den Konflikt an und beherrscht mit seinem entstellten Weltbild weiter eine der beiden großen Parteien. Kurz, die Republik wird existenziell von einer Bewegung bedroht, die die Demokratie unverhohlen verachtet und die die Bereitschaft bewiesen hat, für ihre Ziele Gewalt anzuwenden.« Noch kürzer - Amerika rutscht in Bürgerkriegsstimmung.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -