- Politik
- Frankreich
Macron nimmt Corona-Krankenrekord als Herausforderung an
Impfpolemik greift dem Präsidentschaftswahlkampf voraus
Der Höhepunkt wird erst für Mitte Januar erwartet, doch schon jetzt erreicht die gegenwärtige fünfte Welle der Corona-Erkrankungen in Frankreich schon Rekordwerte. Die Zahl der Neuerkrankungen schnellte im Verlauf der ersten Woche des Jahres von rund 100 000 pro Tag auf nahezu 400 000 hoch. Zu 80 Prozent werden die Fälle durch die hochansteckende Omikron-Variante verursacht, bei der die Erkrankungen aber zumeist weniger schwer verlaufen. Dadurch zählt man in Frankreich gegenwärtig nur etwas mehr als 20 000 Corona-Fälle in den Krankenhäusern, davon knapp 4000 auf den Intensivstationen. Das ist weniger als bei den früheren Wellen.
Dass sich nun so viele Menschen mit dem Virus infizieren, ist zweifellos auch eine Folge des um Verhältnismäßigkeit bemühten Kurses der Regierung. Die jongliert mit ihren Maßnahmen seit Monaten ständig zwischen konsequentem Schutz vor Ansteckung einerseits und Lockerungen im Interesse der Wirtschaft und der Lebensbedingungen der Menschen andererseits. Dabei stehen Präsident Emmanuel Macron, Premier Jean Castex und Gesundheitsminister Olivier Véran nicht zuletzt unter dem Druck der Impfgegner oder -skeptiker und der Franzosen, die zwar nicht unbedingt gegen das Impfen sind, dazu aber keinesfalls gezwungen oder genötigt werden wollen. So sind heute immer noch 5,1 der insgesamt 66 Millionen Franzosen nicht geimpft. Da können die Politiker argumentieren und an die Vernunft oder das Verantwortungsgefühl der Menschen appellieren so viel sie wollen, an der prinzipiellen Skepsis und Feindseligkeit gegenüber der Wissenschaft und der Medizin sowie mehr noch gegenüber der Politik und dem Staat prallt das ab.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Darauf stellt sich die Opposition ein, die alle Kräfte zu sammeln versucht, die geeignet sind, das Establishment zu schwächen. So nimmt die öffentliche Corona-Debatte oft schon Züge eines vorgezogenen Wahlkampfes für die Präsidentschaftswahl im kommenden April und die im Juni folgende Parlamentswahl an, und dabei ist jedes Mittel recht und kein Argument zu dürftig. Selbst dass Präsident Macron den Kampf gegen den Virus zu seiner ganz persönlichen Sache gemacht und sich von Anfang 2020 bis heute fast ein Dutzend Mal mit Fernsehansprachen an seine Landsleute gewandt hat, um die von Medizinern empfohlenen und von der Regierung beschlossenen Maßnahmen zu erläutern, wird ihm von Oppositionspolitikern angekreidet, die ihm unterstellen, er fälle wie ein Monarch alle Entscheidungen einsam und allein.
Doch dass der Präsident und seine Regierung nicht genug zur Abwendung und Eingrenzung der Epidemie getan haben, behaupten nicht einmal die schärfsten Oppositionspolitiker. So müssen sie beispielsweise anerkennen, dass man im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern eine allgemeine Impfpflicht für alle Bürger zu vermeiden versucht. In Frankreich ist diese heute auf das medizinische Personal beschränkt. Dort liegt die Impfrate bei fast 100 Prozent, und Fälle von Schwestern oder Ärzten, die den Verlust ihrer Anstellung in Kauf nehmen, sind selten. Für die Masse der Bürger setzt die Regierung auf den Impfpass, der den vollständigen Impfschutz nachweist und Bedingung für den Zugang zu gastronomischen und kulturellen Einrichtungen oder das Reisen mit dem Flugzeug oder dem Fernzug ist. Das entsprechende Gesetz wurde in der vergangenen Woche in erster Lesung von der Nationalversammlung verabschiedet.
Vorangegangen war dem eine sehr kontroverse Debatte, in der der Pass nur von Jean-Luc Mélanchon und seiner Bewegung La France insoumise sowie dem rechtsextremen Rassemblement National als inakzeptabler Eingriff in die persönlichen Freiheiten pauschal abgelehnt wurde. Dagegen beschränkten sich die rechtsbürgerlichen Republikaner auf eine Verzögerung mit Hilfe von Hunderten Änderungsanträgen, stimmten dann aber doch mehrheitlich für das Gesetz.
In dieser Debatte hat ein Interview von Emmanuel Macron eine Rolle gespielt, in der er erklärte, er wolle »die Impfgegner nerven bis zum Letzten«. Dabei ist »nerven« noch eine verharmlosende Umschreibung des äußerst deftigen Verbs »emmerder«, das der Präsident verwendet hat und für das es in der deutschen Sprache kein exaktes Äquivalent gibt. Dass dieser Fäkalausdruck kein verbaler Ausrutscher war, sondern von Macron bewusst gewählt worden war, wurde Ende der Woche auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deutlich. Da Macron antwortete auf eine entsprechende Frage: »In unserer Demokratie haben alle Bürger sowohl Rechte als auch Pflichten. Einige unserer Landsleute führen das Konzept der Freiheit ins Feld, um sich die Freiheit zu nehmen, sich nicht impfen zu lassen. Doch das hat da ein Ende, wo die Freiheit der anderen Bürger beeinträchtigt und ihr Leben gefährdet wird.« Damit liegt Macron zweifellos auf einer Wellenlänge mit der übergroßen Mehrheit der Franzosen, und das sind schon mal ein paar Pluspunkte für die bevorstehende Präsidentschaftswahl.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.