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»Ich hasse die Sprache, die ich liebe«
Zum 100. Geburtstag des Shoah-Überlebenden, Ritchie Boys und Literaturwissenschaftlers Guy Stern
Vor zehn Jahren erlebte ich Guy Stern in kleiner Runde, in der er überaus rege aus seinem Leben erzählte - von seiner Flucht vor den Nazis, über seine erkämpfte Heimkehr und sein transatlantisches Leben als Germanist und Zeitzeuge. Der energiegeladene 90-Jährige, der jünger wirkte, wollte damals von einem Erinnerungsband noch nichts wissen, aber im Jahre 2020 erschien das Buch im englischen Original - die deutsche Übersetzung kommt nun pünktlich zu seinem 100. Geburtstag am Freitag heraus und heißt »Wir sind nur noch wenige«.
Es ist ein Lebensroman mit großen Tiefen und überraschenden Wendungen. Darin geht es um den Verlust seiner gesamten in Deutschland verbliebenen jüdischen Familie, aber auch um seine Liebe zu einer 41 Jahre jüngeren Frau, wie sie sonst eher bei Rockstars üblich ist. Diese wesensverwandte Susanna Piontek hat seine Memoiren auch übersetzt.
Sie fußen in erster Linie auf Ereignissen und Handlungen, weniger auf direkten Reflexionen, und lesen sich sehr spannend. Diese Erzählsplitter sind zu einem Jahrhundertreigen komponiert. Im individuellen Schicksal werden die Epoche und weiter wirkende historische Strukturen sichtbar.
Als Günther Stern in Hildesheim geboren, erlebt er eine kulturgesättigte Kindheit; er und seine Geschwister werden sehr gefördert. Doch die Lage unter den Nazis wird immer bedrohlicher, sodass die Eltern den ältesten Sohn 1937 in die USA ins Exil schicken und hoffen, er könnte sie nachholen, was durch Engstirnigkeit Einzelner und die verbreitete Angst vor zu vielen Schutzsuchenden misslingt. Wer bedenkt, dass heute wieder Rechtsextreme die hier Ankommenden als »nicht richtige« Flüchtlinge bezeichnen, wenn sie nicht mit der ganzen Familie aufgebrochen sind, erkennt bei Guy Stern eine alte Geschichte, die unter anderen Bedingungen in Variationen immer neu geschieht.
Dramatischer Höhepunkt der Memoiren sind seine Ausbildung zum Feindaufklärer der US-Armee in Ford Ritchie in Cascade, Maryland und der Einsatz in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Unter den dort versammelten Emigranten finden sich auch einige, deren Namen später bekannt werden sollten: von Klaus Mann über Georg Kreisler bis hin zu Stefan Heym.
Listenreich enttarnten diese geheim arbeitenden »Ritchie Boys« Kriegsverbrecher, indem sie deutsche Kriegsgefangene verhörten. Doch deren Verurteilung gelang oft nur, wenn sie politisch gewollt war. So ließ sich einer der Ritchie Boys in die Zelle mit einem mutmaßlichen Täter sperren und täuschte einen Selbstmordversuch vor, da er angeblich Verbrechen gegen amerikanische Soldaten begangen habe. »Schließlich platzte der Leutnant heraus, dass er selbst eines Kriegsverbrechens schuldig sei, aber nicht klein beigeben werde. Er redete auf Korn ein, seinem Beispiel zu folgen.« Vor Gericht gestellt, konnte dieser Täter einer Hinrichtung nicht entgehen.
Ganz anders verhielt es sich, wenn die Verbrechen weit weg im Osten geschehen waren und der Prozess sich in eine Zeit verschoben hatte, in der der Kalte Krieg schon tobte. Der Fall des Dr. Schübbe, dessen Enttarnung im Frühjahr 1945 als ein Kabinettstückchen beginnt, in dem Guy Stern einen Auftritt als angeblicher sowjetischer Offizier in einer Fantasieuniform hat, mutiert zu einem Trauerspiel. Wie der Leiter der Euthanasie-Abteilung von Kiew die Tötung behinderter ziviler Gefangener rechtfertigte, schockierte zunächst auch die breitere Öffentlichkeit. Das »Time Magazine« fasste diese Verbrechen bereits am 7. Mai 1945 zusammen: »Ein gefangen genommener deutscher Arzt, Gustav Wilhelm Schübbe, gab im Verhör durch Angehörige der US-Armee freimütig zu, dass in der Vernichtungsanstalt der Nazis in Kiew in den neun Monaten, die er dort gearbeitet hatte, 110 000 bis 140 000 ›lebensunwerte‹ Menschen getötet worden waren. Schübbe, ein verkommener Drogenabhängiger, der die Anstalt leitete, fügte ungerührt hinzu, er habe 21 000 Menschen mit eigener Hand getötet.«
Der Prozess verzögerte sich, schließlich wurde er nach Nürnberg verlegt, für den im Dezember 1946 angesetzten sogenannten Ärzteprozess. Dort wurde die Anklage bald fallen gelassen, und im Sommer 1947 kehrte Schübbe zu seiner Familie nach Hamburg zurück. Die doppelten Standards bei Kriegsverbrechen sind ein Motiv, das wir bis heute kennen. Makaber endet drei Jahrzehnte später das Leben dieses Täters: »Seine Tochter berichtete, dass er bei jedem Essen von der Herrlichkeit des Dritten Reiches und der Nazi-Ideologie schwärmte. Vielleicht war sein Sohn durch solche Vorträge traumatisiert. Wie das ›Hamburger Abendblatt‹ am 12. und am 13. April 1976 meldete, erschlug der psychisch kranke Sohn beide Eltern mit einer Schaufel.«
Erst allmählich erfährt Guy Stern mehr über den Verlust seiner Familie. Sehr spät erhält er einen Brief eines Arztes im Ruhestand, der ihm mitteilt: »Ich war ein Klassenkamerad Ihres Bruders am Gymnasium Josephinum in Hildesheim. Ich muss Ihnen sagen, im Sport war Ihr Bruder eher linkisch. Aber immer, wenn unser Deutschlehrer wünschte, dass ein Gedicht vollendet vorgetragen werden sollte, rief er Werner auf. Er verhalf selbst schlechten Gedichten zu Glanz.« 70 Jahre nachdem Guy Stern seinen Bruder als Elfjährigen zum letzten Mal gesehen hatte, erfuhr er von dessen Begabung, die sich nie erfüllen durfte.
Auch ihm selbst war die Sprache, seit er ein Kind war, »Stütze und Inspiration, Arbeit und Muße, Leitstern und Liebe«. Dennoch schrieb er seine Bücher auf Englisch, blieb aber als Germanist der deutschen Literatur von Lessing über Grass bis Uwe Johnson verbunden. Auch wurde er Präsident des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Zustimmend zitiert er seinen Kollegen Robert Kahn, der ein vergleichbares Schicksal hatte (das aber im Suizid endete): »Ich hasse die Sprache, die ich liebe.«
Als Literaturwissenschaftler, der sich besonders mit der von den Nazis verachteten und niedergebrüllten Aufklärung und den ins Exil getriebenen Autoren auseinandersetzt, beschreibt Guy Stern sich als einen »selbstmotivierten Workaholic«, denn er habe »das Überlebensschuld-Syndrom«: »Wer eine Katastrophe überlebt, verspürt das Bedürfnis, seine weitere Existenz zu rechtfertigen.«
Gleiches hörte ich auch von Remigranten, die vor der Nazidiktatur geflohen und in das geteilte Deutschland nicht heim-, sondern zurückgekehrt waren. Und von vergleichbaren Lebensläufen erzählten mir Menschen, die an den Rändern Europas ankamen und -kommen.
Guy Stern weitete seine profunde Auseinandersetzung mit der deutschen Exilliteratur und mit anderen Hitler-Flüchtlingen wie Marlene Dietrich oder Lotte Lenya gewissenhaft aus und stand dann wie jeder, der sich mit Migration und Flucht auseinandersetzt, vor dem Dilemma, dass es keine eindeutigen Trennlinien gibt. So wollte der auch gerade hierzulande wieder entdeckte afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin seinen Wechsel nach Frankreich nicht als Auswanderung verstehen, sondern als Vertreibung. »Eine Minderheit von Rassisten raubte mir meine Kreativität, während ich in den USA lebte«, meinte er im Gespräch mit Stern, der dazu kommentierend anmerkt: »Auch die Tyrannei einer Gruppe von Ideologen kann einen schöpferischen Menschen dazu veranlassen, einen Zufluchtsort zu suchen.«
Wenn ein außergewöhnliches Buch eines ist, von dem man sich entfernen kann, ohne seinen Erfahrungsraum zu verlassen, der auch für andere Orte und Zeiten erhellend ist, dann ist »Wir sind nur noch wenige« ein solches.
Guy Stern: Wir sind nur noch wenige. Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys. A. d. amerik. Engl. v. Susanna Piontek. Aufbau, geb., 307 S., 23 €.
Von Achim Engelberg ist aktuell das Buch »An den Rändern Europas« bei DVA/Penguin Random House erschienen.
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