• Berlin
  • Neonazi-Terror in Neukölln

Kein Vertrauen in die Behörden

Initiativen fordern Beteiligung an Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex und breiten Fragenkatalog

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 4 Min.

Zur vollständigen Aufklärung der rechten Anschlagsserie in Neukölln, auch Neukölln-Komplex genannt, wird schon bald ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt werden. Initiativen aus Neukölln, die sich gegen rechte Strukturen organisieren, fordern in einem offenen Brief an die Berliner Fraktionen von SPD, Grüne und Linke, dass sie an der Arbeit des Untersuchungsausschusses »dauerhaft und unmittelbar« beteiligt werden. »Die Abgeordneten sind zur Aufklärung auf das Wissen der Initiativen angewiesen. Und die Initiativen können ohne unmittelbaren Zugang nur sehr begrenzt kritische Begleitung und Nachforschungen leisten«, heißt es in dem Brief, der von 15 Gruppen unterzeichnet wurde, darunter zum Beispiel Basta Britz, Aufstehen gegen Rassismus Neukölln und Rudow empört sich.

Auch das Bündnis Neukölln hat unterzeichnet. Ein Fokus des Untersuchungsausschusses müsse unbedingt auf der Ermittlungsarbeit der Sicherheitsbehörden liegen, sagt Sebastian für das Bündnis zu »nd«. Seinen vollständigen Namen möchte er aus Angst vor Nazi-Angriffen nicht nennen. Das Bündnis beschäftige sich seit 2009 mit militanten Nazi-Strukturen in Neukölln. Auch Betroffene der aktuellen Anschlagsserie seit 2016 seien im Bündnis aktiv, so Sebastian.

Aufträge für den Untersuchungsausschuss

Die Neuköllner Initiativen fordern, dass der Untersuchungszeitraum offen bleiben muss, um Zusammenhänge der Anschlagsserie seit 2016 mit vorherigen Anschlägen aufzuklären.

In den Untersuchungsauftrag sollen die überregionale Vernetzung der Tatverdächtigen sowie ihre Aktivitäten und Straftaten außerhalb des Bezirks aufgenommen werden.

Die bisher nicht untersuchte Verstrickung der Berliner Behörden in den NSU-Komplex muss untersucht werden.

Verantwortung und Rolle von Verfassungsschutz, Staatsanwaltschaft und den verschiedenen Ebenen der Berliner Polizei innerhalb des Neukölln-Komplexes sollen beleuchtet werden.

Beim Versagen der Behörden bei der Aufklärung des Neukölln-Komplexes muss grundsätzlich nach dem Umgang mit rechten Straftaten und Aktivitäten sowie nach Verbindungen und Sympathien zu rechten Akteur*innen und Ideologien in den eigenen Reihen gefragt werden.

»Wir haben von Beginn an darauf aufmerksam gemacht, dass die Anschläge von organisierten Strukturen, einem kleinen Personenkreis und bekannten Tätern durchgeführt wurden«, sagt er. Ermittlungserfolge bei Polizei und Staatsanwaltschaft blieben aber seit Jahren aus, deshalb hätten die Initiativen und Betroffenen inzwischen das Vertrauen in die Behörden verloren. Darum forderten die Initiativen, die Sitzungen und Befragungen des Untersuchungsausschusses öffentlich stattfinden zu lassen und das gesammelte Wissen über rechte Strukturen in Neukölln, das sich die Initiativen in Eigenarbeit aneigneten, im Untersuchungsausschuss zu nutzen. »Wir können die wichtigen Fragen stellen«, sagt Sebastian.

Auch Neukölln Watch gehört zu den Unterzeichnenden des Briefs. »Wir als Neuköllner Initiativen fordern seit Jahren einen Untersuchungsausschuss und wurden jahrelang hingehalten«, sagt Sprecherin Marie Straub. Auch sie meint, es entspreche den Erfahrungen der letzten Jahre, »kein Vertrauen mehr in die Selbstbeschäftigung staatlicher Stellen« zu haben. Genau deshalb sei die Beteiligung der Initiativen so wichtig, denn diese hätten bislang Aufklärungsarbeit und Unterstützung der Betroffenen organisiert.

»Aus unserer Sicht fehlt weiterhin ein umfassender Aufklärungswille seitens der Politik sowie bei der Polizei die Bereitschaft, sich überhaupt aufklären zu lassen«, so Straub. Sie rechnet damit, dass der Untersuchungsausschuss im März seine Arbeit beginnt, und hofft auf eine schnelle und gleichzeitig gründliche Ausarbeitung des Fragenkatalogs. »Wichtig ist uns beispielsweise, dass nicht eine isolierte Anschlagsserie untersucht wird, sondern die zeitliche, räumliche und institutionelle Komplexität des Neuköllner Naziterrors ernst genommen wird«, betont Straub.

Die Berliner Regierungsfraktionen antworteten am Mittwochnachmittag auf den offenen Brief und berufen am 24. Januar einen Runden Tisch mit den Initiativen und Betroffenen ein, um diese möglichst früh in den Prozess einzubeziehen. »Wir wollen euren Input und eure Expertise nutzen, um mit euch über die Aufgabe des Untersuchungsausschusses zu diskutieren«, heißt es in der Einladung. Unterzeichnet haben unter anderem Tom Schreiber (SPD), Niklas Schrader und Ferat Koçak (beide Linke) und André Schulze (Grüne).

Niklas Schrader wird selbst Mitglied des kommenden Untersuchungsausschusses sein, erklärt er. Noch gebe es keinen konkreten Zeitpunkt für die Einsetzung des Ausschusses. »Wir führen aktuell Gespräche in der Koalition zur Erstellung des Fragenkatalogs«, sagt der Abgeordnete. Dieser Fragenkatalog werde die Grundlage zur Erteilung des Untersuchungsauftrags durch das Parlament sein. »Wir müssen mit den Initiativen und Betroffenen klären, in welcher Form eine dauerhafte Beteiligung stattfinden kann«, sagt Schrader. So verhalte es sich auch mit der Forderung, alle Sitzungen und Befragungen des Untersuchungsausschusses öffentlich stattfinden zu lassen. »Es werden sicherlich Sitzungen ohne Öffentlichkeit stattfinden müssen«, so der Linke-Politiker. Die inhaltlichen Forderungen hingegen würden sich mit denen der Linksfraktion decken.

Einer der bekanntesten Betroffenen der rechten Anschlagsserie in Neukölln ist der Linksparteipolitiker Ferat Koçak. Auch er ist Mitglied der Berliner Linksfraktion und ergänzt seinen Parteikollegen noch in einem Punkt: »Es ist höchst problematisch, einen Untersuchungsausschuss zusammen mit der AfD umzusetzen.« Die rechte Partei, so Koçak, deren Mitglieder selbst mutmaßliche Täter im Komplex seien, bekäme so Zugriff auf sensible Daten und säße zum Beispiel in Befragungen den Betroffenen gegenüber.

Für die Grünen-Fraktion koordiniert André Schulze die Vorbereitungen zum Untersuchungsausschuss. »Wir streben eine Einsetzung noch im ersten Quartal 2022 an«, sagt er. Auch seine Fraktion sehe große Überschneidungen mit den inhaltlichen Forderungen der Initiativen. »Für uns stehen ebenfalls neben der Betrachtung der direkten Ermittlung in der Tatserie seit 2016 die Untersuchung von Verbindungen des Neuköllner Umfelds zu früheren Ermittlungen und rechten Netzwerken sowie die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden im Fokus.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.