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Warum die Kommunikations-App Telegram in Russland so beliebt ist
Die Russen lieben den Nachrichtendienst Telegram, denn für viele Menschen ist er eine der wenigen Möglichkeiten, ungefiltert an Informationen zu kommen und sich ohne Angst auszutauschen. Auch der russische Staat hat einiges zum Ruf des Messengers beigetragen, als er ihn erfolglos sperren wollte.
Moskau ist sauer auf die deutsche Regierung. Doch dieses Mal geht es nicht um Oppositionelle oder Außenpolitik, sondern um einen Messenger. »Das offizielle Berlin hat Telegram öffentlich den Krieg erklärt«, polterte die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa Mitte Februar auf ihrem Telegram-Kanal. Und warf der Bundesregierung sogar vor, sich von demokratischen Werten abzuwenden. Sacharowas energischer Einsatz für die russische WhatsApp-Konkurrenz verwundert, gilt der Messenger doch in Russland trotz großer Beliebtheit bei Politikern eher als Kommunikationsmittel der urbanen Opposition.
Telegram und die russische Protestbewegung
Telegram ist ein Kind der russischen Protestbewegung. Als sich im Dezember 2011 100 000 Menschen auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau versammelten, um gegen die gefälschten Ergebnisse der Duma-Wahl zu protestieren, koordinierten sich die Demonstranten über das soziale Netzwerk Vkontakte. Als die berüchtigte Sondereinheit Omon den Vkontakte-Gründer Pawel Durow aufforderte, die Kommunikation zu stoppen, begriff der, dass man in Russland Nachrichten nicht gefahrlos austauschen kann. Und machte sich daran, einen Messenger zu entwickeln, der schneller und bequemer als WhatsApp sein sollte. Als Telegram 2013 schließlich startete, warb Durow mit dessen Sicherheit. Schließlich speichert die App die Chats nicht auf den Geräten, sondern auf Servern auf der ganzen Welt. Geheimdienste haben so praktisch keinen Zugriff. Wohl auch deshalb ist Telegram heute im Iran mit mehr als 50 Millionen Nutzern der beliebteste Messenger.
Dem russischen Staat war so viel Anonymität ein Dorn im Auge. Bereits 2018 warf er dem Messengerdienst vor, Terrorismus zu fördern und forderte die Herausgabe von Daten an den Inlandsgeheimdienst FSB. Angeblich sollen die Attentäter des Bombenanschlags auf die Metro von St. Petersburg im April 2017 über Telegram kommuniziert haben. Im April 2018 fiel der Beschluss zur Blockierung des Messengers in Russland. Und stieß auf heftige Kritik. Kommunikationsberater Jewgenij Mintschenko nannte die Blockierung einen »tragischen Fehler«. Die Regierung zwinge die Menschen, einen neutralen und nicht manipulierten Messenger aufzugeben und etwa zu Facebook abzuwandern, so Mintschenko. Der Chefredakteur des bekannten Radiosenders Echo Moskwy nannte die Blockade einen Versuch, das Kontrollproblem des 21. Jahrhunderts mit Mitteln des 19. Jahrhunderts zu lösen. Selbst der tschetschenische Herrscher und fleißige Telegamer Ramsam Kadyrow sprach sich gegen die Blockade des Messengers aus. Mehrere Kanal-Betreiber sahen die Sache ein wenig entspannter und glaubten, dass die User die Sperre sowieso schnell umgehen und letztendlich »ein Scheißdreck passieren« werde.
Spott und Ärger von Geschäftsleuten
Und so kam es auch. Die Jagd des russischen Staats in Gestalt der Telekommunikationsaufsichtsbehörde Roskomnadsor geriet zu einer legendären Farce. Bei der Suche nach den Nutzerinformationen legten die Staatsorgane viele Seiten lahm und machten Google zwischendurch unzugänglich. Neben einer gehörigen Portion Spott erntete Roskomnadsor für sein Vorgehen auch viel Ärger von Geschäftsleuten. Allein in den ersten zwei Wochen trafen 46 000 Beschwerden ein. Experten schätzen den wirtschaftlichen Schaden der Staatsjagd auf zwei Milliarden US-Dollar.
Die Blamage für Roskomnadsor wurde immer deutlicher, als sich mehr und mehr Politiker als Telegram-Fans outeten. Trotzdem wurde die Blockade erst im Juni 2020 aufgehoben. Die Regierung habe den Messenger für die Kommunikation mit der Bevölkerung in der Corona-Pandemie benötigt, zitiert die Wirtschaftszeitung »RBK« eine kremlnahe Quelle. Und sowieso habe von Anfang an niemand in der Regierung etwas gegen Telegram gehabt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Pawel Durow sich teilweise zur Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen bereit erklärt.
Der Popularität von Telegram in Russland hat die versuchte Blockade nicht geschadet, im Gegenteil. Wanderten Mitte 2018 noch einige Nutzer zu anderen Messengern ab, geht es seitdem nur noch steil aufwärts. Laut Statista nutzten im vergangenen Jahr monatlich knapp 32 Millionen Russen Telegram. Mit einem Marktanteil von 27,4 Prozent ist die App nach WhatsApp und Viber der drittbeliebteste Messenger im größten Land der Erde. Es sind vor allem die Menschen in den Großstädten, die Telegram nutzen. Eine Nutzeranalyse von Telegram Analytics zeigt, dass fast die Hälfte aller User aus Moskau und St. Petersburg kommt. Und die sind weniger am Austausch von Nachrichten interessiert als an Informationen. Über 300 000 russischsprachige Kanäle gibt es mittlerweile. Die decken von Medizin über Historisches bis Yoga alles ab.
Nachrichtenkanäle besonders wichtig
Am wichtigsten sind aber die Nachrichtenkanäle, die von 82 Prozent der Nutzer gelesen werden. Drei Viertel aller Nutzer beziehen von Telegram sogar einen Großteil ihrer Nachrichten. Können sie doch hier lesen, was die Staatsmedien nicht berichten und oppositionelle Medien auf anderen Wegen nicht mehr können.
Im belarussischen Protestsommer 2020 entfaltete Telegram sein Protest- und Demokratisierungspotenzial. Allen voran der aus dem polnischen Exil agierende Kanal Nexta, der damals die Proteste koordinierte. Die Aktivisten sammelten Informationen und verbreiteten Videos vom brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte. Viele ausländische Medien griffen auf die Informationen von Nexta zurück. Und in Russland wurde das »Belarus-Watching« beliebt. Viele Menschen wollten ungeschminkt erfahren, was beim Nachbarn passiert.
Anfang 2021 konnten sich die Moskauer selbst davon überzeugen, wie Telegram einen Protest leiten kann. Nachdem ein Moskauer Gericht den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zu einer Freiheitsstrafe verurteilt hatte, gingen Tausende trotz eisiger Temperaturen auf die Straße. Und wurden dort bereits von der Polizei erwartet. Per Telegram startete der Nawalny-Stab ein Katz-und-Maus-Spiel, schickte die Demonstranten an immer neue Orte in Moskau und ließ die Staatsmacht mächtig schwitzen. Auch bei den Protesten in Kasachstan war Telegram zu Jahresbeginn das Mittel der Wahl, um sich zu koordinieren und vor allem zu informieren. So sickerten trotz häufiger Internetabschaltungen viele Informationen durch. Noch während ausländische Medien überlegten, wen sie denn vor Ort befragen könnten, waren Telegram-Nutzer bereits informiert. Vorausgesetzt, sie sprechen Russisch.
Telegram ist in Russland so etwas wie die letzte Insel der Freiheit, auf der Menschen und Medien sich austauschen können, ohne dass sofort die Polizei vor der Tür steht. Dafür zahlt das Unternehmen seinen Preis. Im vergangenen Jahr verhängten Gerichte Strafen in Höhe von 176 000 Euro, weil Telegram verbotenen Inhalt nicht gelöscht hatte. Anfang Januar wurde bereits der nächste Prozess eröffnet - dieses Mal geht es um 130 000 Euro.
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