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- Jürgen Schröder und das »Mao-Projekt«
Ein legendärer Ghostwriter
Er wusste fast alles über den Maoismus: Jürgen Schröder hätte Professor für Linksradikalismus werden können, machte aber lieber das »Mao-Projekt«
Am 21. Dezember postete mein Facebook-Freund Jürgen Schröder ein durchgestrichenes Kinderfoto - das offenbar ihn selbst zeigte - mit der Zeile: »Ja, Zeit wird es, abzutreten, Herr Minister!« Damit kündigte er seinen Tod an. Als einige seiner Freunde den etwas kryptischen Satz nicht verstanden, präzisierte er: »Ich habe Magenkrebs, der gestreut hat, es bleiben also nur wenige Monate.« Die Ärzte haben sich geirrt. Jürgen Schröder ist - wie man den Beileidsbekundungen auf seiner Timeline entnehmen kann - am Sonntag, den 9. Januar in einem Berliner Krankenhaus gestorben. Er wurde 63 Jahre alt.
Wie die meisten meiner Freunde auf Facebook habe ich auch Jürgen nie persönlich kennengelernt. Doch wir haben uns seit 2015 immer wieder im Chat ausgetauscht. Dabei kam heraus, dass sich unsere Lebenswege zumindest indirekt schon einmal gekreuzt hatten. Jürgen war in den 1970er Jahren Maoist gewesen, genauso wie ich. Schon als Teenager hatte er in Hamburg-Wentorf die »Kommunistische Volkszeitung« des KBW verkauft. Auch war er offenbar 1976 in eine kleine Sabotageaktion verwickelt, die den Zaun der Boehn-Kaserne in Hamburg-Rahlstedt betraf und die die dort kasernierten Soldaten in ihrem Kampf gegen ihre Offiziere unterstützen sollte. Ich kann mich an die Aktion noch sehr dunkel erinnern, denn ich war damals in dieser Kaserne stationiert. Zwar war ich beim Bund von meinem eigenen Teenager-Maoismus abgekommen, hatte aber den einzigen, dafür ziemlich aktiven, KBWler in unserem Panzerspähzug bei allen Aktionen tatkräftig unterstützt. Jürgens Attacke auf den Kasernenzaun - er war damals noch Schüler - sollte also auch mir irgendwie helfen.
Jürgen selbst ging nicht zum Bund, sondern 1978 nach Westberlin, um der Wehrpflicht zu entgehen. Was er hier politisch oder auch sonst machte, weiß ich nicht. Auf jeden Fall entwickelte er sich über die Jahre zu einem der wohl kenntnisreichsten Historiker des deutschen Maoismus und Linksradikalismus. Zusammen mit Dietmar Kesten baute er die Internetseite »mao-projekt.de« auf, um hier jahrelang tonnenweise nicht nur maoistische Papiere und Zeitungen hochzuladen und sie so der Forschung zugänglich zu machen. Seinen Lebensunterhalt bestritt er als Ghostwriter: »Ich schreibe im Jahr jetzt so 12-15 Diplome [Diplomarbeiten] und eine halbe Diss.«, teilte er mir im Chat so nebenbei mit, »50 Euro pro 1650 Zeichen nehme ich dafür.«
Über seine Ghostwriterei kamen wir auch in Kontakt. Im Februar 2015 schickte er mir eine begonnene Diplomarbeit über den Ukraine-Konflikt und kommentierte: »Diese Diplomarbeit habe ich gerade wegen zu wenig Spaß und zu schlechter Entlohnung an die Kundin abgegeben.« Und falls einer meinen sollte, ich plaudere hier postum etwas aus, was Jürgen nicht gewollt hätte: Er hat aus seiner Arbeit nie ein Geheimnis gemacht. 2003 erschien sogar ein »Spiegel«-Artikel über ihn, bei voller Namensnennung wurde er als »Universalschreiber« vorgestellt: »Schröder beherrscht Amerikanistik und Marketing, Krankenpflege und Kunstgeschichte, Sonderpädagogik und Psychologie.« Er hatte in Westberlin zwölf Jahre studiert und schließlich an der Freien Universität ein Diplom in Politikwissenschaft gemacht, mit einer Arbeit über die K-Gruppen. Laut »Spiegel« habe er an der Uni nicht viel gelernt, »außer, dass er das gleiche Referat auch mehrmals halten konnte, wenn er es ein bisschen überarbeitete.« Bevor er professioneller Ghostwriter wurde, jobbte er er als Fahrradkurier und als Software-Verkäufer.
Später fragte ich ihn immer wieder mal, wenn ich etwas über den deutschen Maoismus wissen wollte, über Hintergründe und Personen. Jürgen wusste (fast) alles. Er hätte gut und gerne einen Leerstuhl für die Geschichte des Linksradikalismus besetzen können, aber er schien sich nicht viel aus Titeln und gut dotierten Positionen zu machen. Tatsächlich war Jürgen Schröder ein klassischer Antiautoritärer, und da kommt der frühe Maoismus im Westen ja auch eigentlich her, bevor er dann in den K-Gruppen für ein paar wenige Jahre dogmatisierte. Zum Antiautoritären passt, was Jürgen mir einmal schrieb: »Ich versuche das Denken ja meist zu vermeiden, schon wegen der Schmerzen, die es verursacht.« Kurze Schreibpause. Dann setzte er hinterher: »Nur das Lügen mag ich nicht lassen, denn allen jeden Morgen sitze ich allein denkend geraume Weilen herum.«
Als Jürgen Schröder jetzt kurz vor Weihnachten von seinen Freunden gefragt wurde, wie er die letzten Monate seines Lebens zu nutzen gedenke, antwortete er, dass er an seiner Biografie arbeite. Das, so fand ich, war ein guter Plan; ich hätte mir das Leben dieses Mannes von ihm selbst wirklich sehr gerne erzählen lassen. Doch schon am 1. Januar erklärte er auf Nachfrage, dass er nicht vorankäme. Grund: »Zuviel Gezanke.« Ich dachte, das sei ein Witz, und habe weiter auf die Autobiografie gehofft.
Das daraus nichts wird, ist sehr schade. Und auch ein bisschen tragisch: Der Mann, der wahrscheinlich Hunderte von Diplomarbeiten und Dissertationen aus dem Ärmel geschüttelt hat, hat am Ende das Buch nicht beenden können, das wahrscheinlich das wichtigste in seinem Leben geworden wäre. Aber vielleicht ist das auch nur mein Problem. Jürgen selbst scheint am Ende nicht unzufrieden gewesen zu sein. »Ich komme halt aus einer Krebsfamilie«, schrieb er in einem Kommentar, »und habe aber ein schönes Leben gehabt. Etwas länger hätte ich es mir schon gewünscht, aber …«
Ich wünsche dir eine gute Reise, Jürgen, wohin auch immer sie geht.
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