- Kultur
- »MiniMe« an der Berliner Volksbühne
Wenn sich die Figuren kaum entwickeln
Überraschung: Realismus an der Berliner Volksbühne, mit »MiniMe«, inszeniert von Kornél Mundruczó
Wie kommen Theater zu ihren Produktionen? Der übliche Weg führt über die Dramaturgie, deren Mitarbeiter zunächst Regisseure engagieren. Im Austausch mit ihnen werden daraufhin Stücke sondiert und Ausstatter unter Vertrag genommen. Schließlich erhalten Schauspieler aus dem Ensemble Order, dass sie demnächst diese oder jene Rolle zu proben haben. Das letzte Wort hat bei all den Entscheidungen der Intendant. Seine Idee von Theater prägt das Profil eines Hauses. Dieses Prozedere zog jedoch zuletzt immer häufiger Kritik auf sich. Dramatiker fordern eine bessere Stellung, Schauspieler wünschen mehr Mitsprache, und die Direktoren, so heißt es, haben ohnehin viel zu viel Macht.
An der Berliner Volksbühne, so kündigte der seit Sommer amtierende Intendant René Pollesch an, sollte all das nunmehr anders laufen. Dem Regisseur und Autor scheint seine neue Machtposition schlicht unangenehm zu sein. In Interviews fremdelt er gern mit seiner Rolle, wiederholt gebetsmühlenartig, dass er nur das Gesicht eines Teams sei. Nicht er oder eine Dramaturgie wähle Regisseure aus, sondern die Schauspieler selbst könnten ihre Wünsche durchsetzen. Bislang ist ungewiss, ob dieses System zu faireren Arbeitsbedingungen oder gelungeneren Inszenierungen führt, da es den unschönen Nebeneffekt hatte, dass bislang nur wenige Premieren auf der Bühne zu sehen waren. Der Spielplan erregt vor allem durch seine Dürftigkeit Aufsehen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Offen spricht man inzwischen von einem verkorksten Start. Kommt da noch was? Es kommt etwas, und sogar eine dicke Überraschung: Realismus, ein Kammerspiel, richtige Figuren! All das wäre an Polleschs Haus nicht zu erwarten gewesen, hält er das bürgerliche Repräsentationstheater doch für den Gottseibeiuns der Kunst. Aber der Intendant möchte ja keiner sein. Vermutlich hat Kathrin Angerer den Regisseur des Abends nach Berlin gelotst: Kornél Mundruczó. Der Ungar feierte zuletzt vor allem in Hollywood Erfolge. 2020 kam sein Film »Pieces of a Woman« mit Vanessa Kirby und Shia LaBeouf in die Kinos, die Geschichte einer Frau, die um ihre tot geborene Tochter trauert.
Als Theaterregisseur hat Mundruczó unter anderem immer wieder am Hamburger Thalia-Theater gearbeitet. Bei seinem Berlin-Debüt lässt er Angerer nun als in die Jahre gekommenes Ex-Model Clau durch ein Loft staksen. Man kommt nicht umhin, ihre vergleichsweise niedrigen Absätze als Anspielung auf die mörderischen Stilettos zu verstehen, die sie noch bei Frank Castorf trug. Auch die Handkamera erinnert an frühere Zeiten. »MiniMe« lautet der Titel des Stücks von Kata Wéber, die regelmäßig mit Mundruczó zusammenarbeitet, Stücke und Drehbücher für ihn schreibt. Der Abend beginnt hinter Sichtbeton, nur als Projektion verfolgt das Publikum, wie Angerer mit ihrer Tochter, gespielt von Maia Rae Domagala, über den Hausaufgaben sitzt. Doch die Kamera ist hier kein Mitspieler wie einst, die beiden wenden sich ihr nicht zu, schreien auch keine Monologe in ein geangeltes Mikrofon. Keine Entfesselung oder Verausgabung ist hier Ziel des medialen Einsatzes, vielmehr die Verdopplung eines psychologischen Spiels. Stets viel zu nahe rückt das Objektiv an die beiden heran, spiegelt das Verhalten der Mutter, die ihr Kind bedrängt und für die eigenen Wünsche in Geiselhaft nimmt.
Die Grundschülerin soll Model werden; die Mutter trainiert sie, lässt sie auf einem Catwalk durch die Wohnung laufen und wachst ihr kaum vorhandenes Haar von Beinen und Gesicht. Auch Botox würde sie nur allzu gerne einsetzen, um die Chancen der Tochter in einem Talent-Wettbewerb zu erhöhen, doch da sperrt sich, zumindest vorerst, noch der Vater - gespielt von Daniel Sträßer, auch bekannt als »Tatort«-Kommissar aus Saarbrücken.
Sträßers Josef trinkt Bier aus der Dose, tigert in der Wohnung herum, weist seine Frau immer mal wieder wegen ihrer Erziehung zurecht, verliert dann aber unerwartet wieder das Interesse und lässt sie gewähren.
Nach einer halben Stunde wird die Fassade hochgezogen, der Blick schweift nun frei über das naturalistisch ausgestattete Bühnenbild von Stéphane Laimé und Mona-Marie Hartmann: ein Loft, in der Rückwand Fenster, dahinter ein Wald, die Wohnung voll ausgestattet, eine Küche, Sofas, Fernseher, Plattenspieler, Garderobe. Sogar ein Jagdgewehr hängt an der Wand, was in der Volksbühne schon fast ein Witz für sich ist, muss man doch sogleich an das Dogma Anton Tschechows denken, der forderte: Wenn im ersten Akt ein Gewehr an die Wand gehängt wird, muss es später auch abgefeuert werden. So viel sei verraten: Die Waffe wird abgefeuert werden und auch ihr Ziel finden.
Bei »MiniMe« mag man vielleicht an die gleichnamige Figur im Austin-Powers-Film »Spion in gemeiner Missionarsstellung« denken und liegt nicht völlig falsch. Mutter Clau wünscht sich eine Tochter, die ihrer besten Vorstellung von sich selbst entspricht: eine schöne, begehrenswerte Frau. Es stört sie wenig, dass es sich bei ihrer »Mini«, wie sie sie nennt, noch um ein junges Mädchen handelt, nicht früh genug kann man ihrer Ansicht nach offenbar damit beginnen, für ein erfolgreiches Leben vorzusorgen, was auch bedeutet: an der Seite eines reichen Mannes. Zwar scheint sie dieses Ziel durchaus erreicht zu haben - einen Mann hat sie, und der Wohnung zufolge, die offenbar ihm gehört, dürfte er nicht am Hungertuch nagen. Doch glücklich oder zumindest zufrieden wirken die beiden nicht. Die Eheleute belauern einander, spielen ein Paar, ohne es noch zu sein. Als das Kind nach der schließlich doch erfolgten Botox-Behandlung in Ohnmacht fällt, kommt es zum großen Krach - die über Jahre gehegte beiderseitige Verachtung bricht sich Bahn.
Der Untertitel »Zehn Lektionen in Unterwerfung« klingt wie ein Euphemismus für die Misshandlungen, derer man hier Zeuge wird. Die Tochter weiß sich bisweilen bloß noch zu helfen, indem sie sich tot stellt. Nur durch die Erregung von Angst kann das Kind so etwas wie ein Surrogat von Zuneigung erlangen, während es ansonsten als Spielball im Ehekrieg fungieren muss, als Projektion der kaputten Seelen ihrer Eltern. Die sehr junge Schauspielerin Maia Rae Domagala ist die große Entdeckung des Abends. Bewundernswert virtuos ist ihr Spiel, das sich nicht darin erschöpft, das Leid ihrer Figur zu zeigen, sondern auch die seelische Barbarei ihrer Eltern spiegelt.
Die Drastik, mit der Mundruczó und Wéber diese Geschichte erzählen, führt aber auch zu Problemen. Wenig spricht dafür, dass sich solche Verhältnisse in vielen Wohnungen jenseits der Bühne abspielen, dass »MiniMe« also auf ein gesellschaftliches Problem aufmerksam machen würde. Die Mutterfigur mit ihrem Frauenbild wirkt doch arg anachronistisch und der Vater allzu passiv, um ihn wirklich als Mann der Gegenwart ernst nehmen zu können. Betrachtet man nur das Phänomen an sich und abstrahiert von der hier mit einem gewissen Genuss gezeigten Gewalt, bleibt die Grundkonstellation übrig, dass Eltern ihre Kinder nach ihrem eigenen Vorbild prägen und ihnen damit potenziell Unrecht tun. Diese Thematik ist allerdings nicht eben neu. Fast alle Stücke, in denen es um Generationenkonflikte geht, greifen sie implizit oder explizit auf, von Shakespeares »King Lear« bis Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden«.
Mundruczó und Wéber wuchern hier also vor allem mit dem Ausmaß der Gewalt, stellen sie möglichst direkt und offen zur Schau. Das hat dramaturgische Konsequenzen: Es ist schon zu Anfang alles klar, einschließlich des Umstands, dass es noch schlimmer kommen wird. Nicht Spannung ist demnach zu erwarten. Die Figuren entwickeln sich kaum, sie sind am Schluss noch, was sie bereits zu Beginn von sich preisgaben. Lediglich die Intensität der Grausamkeit nimmt zu, womit sich das Stück selbst um seine Komplexität bringt.
Oberflächlich wirken Text und Spiel mitunter, als liege das vornehmliche Ziel im Schockmoment selbst, im Effekt. Der 90-minütige Abend folgt mehr den Regeln des Horror-Genres als denen des Familiendramas. Das wiederum passt gar nicht schlecht zur Volksbühne, diesem Ort, an dem sie so gerne gegen die Regeln der Hochkultur spielen.
Nächste Vorstellungen: 2.2., 13.2, 26.2.
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